Vera Schmitz und ein in Tigray geborenes Baby.

Foto: MSF

STANDARD: Sie waren ab Ende November in Äthiopien im Einsatz. Die Einreise nach Tigray ist auch für Helferinnen und Helfer schwierig. Wie sind Sie an Ihren Einsatzort gelangt?

Schmitz: Wir sind zunächst von Addis Abeba nach Semera gefahren, das ist die Hauptstadt von Afar, der Nachbarregion von Tigray. Es war damals noch unmöglich, direkt nach Tigray oder in die Hauptstadt Mekelle zu fahren. Wir mussten uns dann ständig darum bemühen, über die Grenze zu kommen. Mitte Dezember durften wir dann wirklich einreisen, zuerst nach Mekelle und dann in die Stadt Adigrat.

STANDARD: Was war Ihr Eindruck, als Sie in Tigray angekommen sind?

Schmitz: Als Erstes haben wir das Uni-Spital in Mekelle besucht, das sonst das größte der Region ist und 1,4 Millionen Menschen versorgt. Später ging es nach Adigrat. Dort hat das Spital nur noch zu etwa 20 Prozent funktioniert. Es gab nur noch eine Notaufnahme, den Kreißsaal, den OP und eine chirurgische Station, die noch halbwegs funktioniert haben. Es gab keine ambulante Versorgung, keine innere Medizin, keine Kinderstation. Von den Gesundheitszentren in der Stadt und im Umland, die ich über die Zeit besucht habe, hat kein einziges voll funktioniert.

STANDARD: Weil Personal oder Medikamente nicht mehr vorhanden waren oder weil es Zerstörungen gab?

Schmitz: Beides. Das Spital in Adigrat war zwar nicht zerstört und auch nicht geplündert, so wie sonst viele. Aber es war kaum Personal da. Viele können nach Monaten der Krise einfach nicht für das Spital arbeiten, weil sie ja auch schon monatelang kein Gehalt mehr bekommen haben. Für die stellt sich die Gewissensfrage: Gehe ich los, um irgendwie Essen zu suchen, oder ins Spital, um dort Fremde zu versorgen? Medikamente gab es auch nur teils. Insulin war zum Beispiel gar nicht mehr da. Und auch Sauerstoff fehlte oft, denn dafür braucht es oft Elektrizität, auch Sauerstofflaschen fehlen oft. Und viele hatten Angst, länger als nötig im Spital zu bleiben.

STANDARD: Gab es denn auch Drohungen?

Schmitz: Militär und bewaffnete Gruppen kamen immer wieder ins Spital und bedrohten dort Personal und Zivilisten. Das ist auch in der Stadt Adigrat so. Aber noch stärker ist das in ländlichen Regionen so, wo die allermeisten Gesundheitszentren, die ich gesehen habe, geplündert waren: Türen kaputt, Fenster eingeschlagen. Eines wurde von Raketen getroffen. Da liegen dann einfach ein paar alte Medikamente, Materialen, Akten kreuz und quer am Boden. Oft hat man den Eindruck, dass Dinge mutwillig zerstört wurden. Als wollte jemand verhindern, dass Leute Hilfe bekommen können.

STANDARD: Welche Verletzungen mussten Sie behandeln?

Schmitz: Es gibt natürlich all das, was es immer und überall gibt. Aber dazu kommen schon auch Schuss- und Explosionswunden. Und es gibt viele Patientinnen und Patienten mit Durchfallerkrankungen, die daher kommen, dass es kein sauberes Wasser gibt. Unsere erste Patientin überhaupt war eine Frau in den Wehen, die stundenlang auf einem Eselskarren anreisen musste. Die Geburt dauerte vier Tage, es gab schwere Komplikationen. Sie konnte das Kind nur noch tot gebären, sie selbst hatte ebenfalls schweren Blutverlust. Wir haben sie dann nach Mekelle gebracht. Jeder hat ein Anrecht auf Gesundheitsversorgung bei einer Geburt. Wenn das einfach nicht da ist, ist das für mich völlig untragbar.

STANDARD: In Berichten ist auch oft von der Gefahr einer Hungersnot die Rede.

Schmitz: Das Problem in Tigray ist, dass schon vor der Krise viele auf Nahrungshilfen angewiesen waren. In einigen Gebieten haben wir nun Leute getroffen, die sie zuletzt im September erhalten haben. Wenn man die Leute fragt, was ist das größte Problem für euch, dann ist die Antwort meistens: Essen, Nahrung.

STANDARD: Sie haben einen Blog-Eintrag verfasst, in dem Sie andeuten, bei früheren Einsätzen seinen meist kranke Kinder im Spital gewesen, diesmal nicht. Wie deuten Sie das?

Schmitz: Man würde sonst Kinder mit Lungenentzündungen oder mit Durchfall in den Spitälern erwarten, oder Neugeborene nach der Geburt. Sie waren diesmal nicht da. Wo sie alle sind? Viele Frauen haben ihre Kinder ohne ärztliche Behandlung bekommen, und viele trauen sich nicht ins Spital.

STANDARD: Die Regierung hat einen Kommunikations-Blackout erlassen, der teils noch immer in Kraft ist. Was waren die Folgen?

Schmitz: Im ersten Monat gab es nicht einmal Telefon. Später ging das teils wieder, aber nur in einigen Gegenden. Das Internet geht noch immer nicht. Für uns bedeutet das, dass man sich für Medikamentenbestellungen etwas überlegen muss. Am besten speichert man sie auf einen USB-Stick und gibt sie dann dem nächsten Auto mit, das nach Mekelle fährt. Und dann schaut man, was dabei rauskommt. Für die Bevölkerung heißt das alles natürlich: Es gibt weder einen Notruf noch telefonische Beratung.

STANDARD: Haben Sie die äußeren Umstände denn innerhalb der drei Monate verbessert?

Schmitz: In den größeren Städten ist die Nahrungssituation besser, und die Banken sind wieder offen, sodass die Leute zumindest an ihr Geld kommen. Aber es wird noch immer in einigen Regionen gekämpft, die meisten Gesundheitszentren sind noch zu. Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist enorm, und je weiter wir ins Umland vordringen, desto mehr stellen wir das fest. Es ist auch so, dass wir derzeit noch fast alleine dort sind, andere Organisationen treffen erst langsam ein. Das war jetzt mein 15. Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen. Ich mache nur Noteinsätze. Und es war eindeutig das schlimmste Ausmaß einer humanitären Krise, das ich bisher gesehen habe. Die Komplexität der Probleme ist unfassbar. (Manuel Escher, 24.3.2021)