Die Kulturpolitik bremse das Potenzial des Weltmuseums, sagt Kulturwissenschafter Wolfgang Zinggl.

Exponate des Weltmuseums aus dem "Korridor des Staunens". Wie geht es weiter mit dem Wiener Weltmuseum?
Foto: APA / Georg Hochmuth

Wer sich zur Pandemie bereits ein wenig informiert fühlt, denkt gelegentlich über anderes nach. Über Demokratie, Gerechtigkeit und Political Correctness zum Beispiel oder über Ausgrenzung, asoziale Netzwerke und Nationalismus. Wer sich zudem noch eine Meinung zu Gender-Mainstreaming bildet, wer sich vorsichtig Gedanken zum englischen Königshaus macht, zu Vincent Buenos (Is this what we wanted?) oder zu Starmania – die Entscheidung, kann sich gut und gerne als kulturpolitisch interessiert bezeichnen. Ja, die Kultur ist ein weites Land.

Aber so weit ist dieses Land gar nicht. Andernfalls gäbe es nicht explizit eine Kulturpolitik. Die Kulturpolitik kümmert sich um das Politische an der Kultur. Beziehungsweise sollte sie das. Denn tatsächlich ignoriert die öffentliche Kulturpolitik ihre Aufgabe und konzentriert sich vorrangig auf Kunsttempel. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als mit der Behandlung der riesigen kulturanthropologischen Sammlung im Weltmuseum Wien. Ursprünglich als Völkerkundemuseum von internationalem Ruf, ist diese Institution seit zwanzig Jahren ans Kunsthistorische Museum gefesselt und wird von diesem vampiristisch ausgesaugt. Für wissenschaftliche Entwicklung und anspruchsvolle Ausstellungen gibt’s bestenfalls Krümel, jedes Tixo muss von der großen Kunstschwester genehmigt werden, ausgeblutet ist es mittlerweile nur noch eine Mumie der K.-u.-k.-Schatzkammer.

Themen sonder Zahl

Dabei wäre es für aktuelle Auseinandersetzungen – trotz seines unglücklichen Hippienamens – mehr als exponiert. Es müsste nur aus der Umklammerung befreit werden und dann seinen Gründungsmakel, Kultur lediglich als ethnische Kategorie zu interpretieren, abstreifen. Augenblicklich ginge mit einer unerschöpflichen Zahl pulsierender Themen die Post ab.

Dass manch eine bewusstseinsverändernde Droge legalisiert ist, obwohl sie die Gesundheit genauso gefährdet wie eine verbotene, wäre genauso ein Beispiel für kulturelle Muster wie die Behandlung von Tieren, die von Fleischhauerinnen seziert und von Adventisten nicht einmal berührt werden. Oder dass die einen Weihnachten unterm Baum verbringen, während andere dem Ritual entfliehen und nach Dubai fliegen. Oder wenn militärische Überlegenheit mit Zivilisation verwechselt wird – die Geschichte des Kolonialismus ist nur eine Variante dieser Dummheit. Weiter geht’s. Gibt es bessere und weniger entwickelte Kulturen? Warum schminken sich Menschen, stechen und pecken ihre Körper? Was ist ein verletzender Umgang mit Angehörigen anderer Gruppen?

Spielend ließen sich die Zeilen hier mit Themen füllen, und es wäre nicht die blödeste Entscheidung kommuner Kulturpolitik, Erkenntnisse und Dokumente des Weltmuseums zu nutzen, um eine selbstverständliche Vielfalt bewusst zu machen, Probleme unterschiedlicher Daseinsentwürfe von Punks bis Bankerinnen, von Straight-Edge-Veganern bis Schlachthofbesitzerinnen aufzubereiten und in verdaulichen Rationen zu präsentieren.

Identitätsfragen

Zweifelsohne hat Wien ein großartiges Angebot für den Tourismus. Das Weltmuseum als Forum für grundsätzliche Fragen zur Identität, zum Ausschließen und Eingliedern, zum Gegen- und Füreinander von Menschen allerdings hätte einen gesellschaftspolitisch anspruchsvolleren Nutzen als die fünf kostspieligen Bundeskunsttourismustanker auf der Jagd nach Quoten. Bildungseinrichtungen sollten in erster Linie für die vor Ort Lebenden finanziert sein, denn wenn eines Tages, wer weiß, die Museenblase platzte, bliebe von all der Kunst und Kultur, die Kultur kurzerhand zur Kunst macht, ein Napf.

Kultur. Die einen verwenden das Wort als Synonym für Kunst, andere für unterschiedliche Lebensweisen. Für die Ersteren gibt’s ausreichend viele Institutionen, und für die anderen könnte ein neues "Weltmuseum" die Lücke ein wenig schließen. Nicht um zu zeigen, wie Menschen woanders essen, musizieren und leben, nicht um Urlaubserinnerungen mit ethnischen Klischees aufzufrischen. Kulturforschung analysiert trennende Merkmale und macht sie dadurch weniger trennend. Anstelle der Kontemplation vor exotischen Exponaten bereitet sie dem ständig wiederholten Unsinn, "unsere" Kultur stehe auf christlich-jüdischen Beinen, genauso ein Ende wie den immer wiederkehrenden Ambitionen auf eine Leitkultur oder dem hegemonialen Streben nach einem "Mistelbach first".

Wieder nie zu spät

Zurzeit tut das Museum nicht, was es vorgibt zu tun, nämlich "gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen anhand der umfangreichen Sammlungen in den Kontext von heute einzubetten". Nur selten kann es den musealen Blick gegen den aktuellen tauschen, wie mit der Ausstellung "Verhüllt, enthüllt! Das Kopftuch".

Das ist nicht die Schuld des Museums. Während überall auf der Welt ähnliche Einrichtungen ordentlich dotiert und vergrößert werden, wird in Österreich von den Regierungen, gleich welcher Couleur, das Gegenteil gemacht. Dass alle paar Jahre die Leitung getauscht wird, wie in diesen Tagen, prolongiert den Zustand lediglich. Aber wie immer ist es natürlich auch diesmal wieder nie zu spät. (Wolfgang Zinggl, 23.3.2021)