Während das Coronavirus die Welt auf den Kopf gestellt hat, war es für die Familie Wagner praktisch ein Jahr wie jedes andere. "Wir leben immer so", sagt Dietmar Wagner. Der 46-Jährige sitzt in seinem Wohnzimmer, blaues Hemd, Lächeln auf den Lippen. Er ist zufrieden – anders als die meisten Menschen gerade. Für sie waren es harte zwölf Monate ohne Urlaub, ohne Kino, ohne Restaurant, ohne Abendessen mit Freunden. "Als andere über die Einschränkungen gejammert haben, habe ich gemerkt: Die sind jetzt dort, wo wir schon lange sind. Für uns ist das seit 18 Jahren normal." Vor 18 Jahren kam Sohn Daniel zur Welt.

Das Paar war noch nicht lange zusammen, als Elisa schwanger wurde. Sie heirateten, und aus Dietmar und Elisa wurden "die Wagners", wie sie sich selbst nennen. Daniel wurde mit einer schweren Behinderung geboren. "Unser Leben hat sich von nun an danach gerichtet, was für ihn richtig ist." Und das bedeutete, das Leben, wie sie es vorher gekannt hatten, aufzugeben. "Ein Kinobesuch ist für uns nur noch unter sehr großem Aufwand möglich. Da müssen wir zwei oder drei Leute für die Betreuung organisieren", sagt Dietmar Wagner. Ebenfalls schwierig ist, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Daniel ist Autist und fühlt sich in fremden Wohnungen häufig unwohl. "Er fängt dann an, zu schreien und sich selbst zu hauen", berichtet seine Mutter.

Ihr Sohn zeige deutlich, wenn ihm etwas nicht behage. Bei Spaziergängen drehe sie oft schon an der Türschwelle wieder um, "weil ich merke, das wird nichts". Auch Lokalbesuche unternimmt die Familie in normalen Zeiten nur selten. Wegen seiner Zöliakie, einer Glutenunverträglichkeit, kann Daniel nicht alles essen.

Kochen und Essen gibt Struktur

Trotzdem geht es den Wagners gut. Sie sagen es nicht nur, man sieht es ihnen auch an. Ihr Blick ist offen, ihre Stimme fröhlich, ihr Umgang miteinander ruhig und voller Wertschätzung. Was machen sie richtig?

An einem Donnerstagnachmittag im März hat sich die Familie Zeit genommen, um Einblick in ihr Leben zu geben. Daniel sitzt an der Breitseite eines großen Holztisches und isst einen Muffin. "Bitte nicht wundern", sagt sein Vater. "Er spricht nicht. Er ist nicht unhöflich."

Für das Familienfoto wurden die FFP2-Masken kurz abgenommen. Elisa, Daniel und Dietmar Wagner (v. li.) in ihrer Wohnung in Mödling.
Foto: Heribert Corn

Der Tisch ist für die Wagners so etwas wie das Epizentrum der Wohnung. Dort wird dreimal am Tag groß aufgetischt. Mandelmuffins, Buchteln, Kärntner Kasnudeln, marokkanische Tajine, Paprikahendl, Insalata caprese oder Fenchelrisotto. Daniel esse all diese Gerichte mit. "Wir haben ihn schon zum Feinschmecker gemacht", sagt sein Vater stolz. Das absolute Lieblingsgericht des 18-Jährigen ist aber Lasagne.

Selbstgekochtes Essen macht der Familie Freude, es gibt ihnen Struktur, es tut ihnen gut – besonders bei Daniel seien die positiven Auswirkungen zu merken, weil er deutlich ausgeglichener sei.

Vieles ungewiss

Seit Dietmar Wagner pandemiebedingt im Homeoffice ist, können die drei auch mittags gemeinsam essen. Er betreut IT-Projekte bei einem Onlinemarketing-Dienstleister. Seine Frau Elisa arbeitet in einem Biosupermarkt. Als der Lockdown verkündet wurde, hat sie Stunden reduziert, um sich um Daniel kümmern zu können. Die Sonderschule, die er normalerweise besucht, wurde geschlossen. Sie betreut ihren Sohn nun von Montag bis Donnerstag, am Freitag und am Samstag ist ihr Mann zuständig, und sie geht arbeiten.

Das ist eine Strategie des Paars: flexibel bleiben, Dinge nicht als für immer gegeben annehmen. Sie haben gelernt, sich schnell auf neue Gegebenheiten einzustellen. Ihre Methode ist Trial and Error, also auszuprobieren, ob etwas funktioniert wie gedacht, und wenn nicht, es gleich zu lassen – wie beim Spazierengehen.

Dass ein Tag nur selten so abläuft wie ursprünglich geplant, kennen wohl viele, die Kinder haben. Nur dass die meisten Kinder irgendwann selbstständig werden. Wann Daniel einmal selbstständig wird oder ob überhaupt, ist unklar. Der Familie Wagner ist der Umgang mit Ungewissheiten, den derzeit viele so anstrengend finden, also nicht neu. "Lange war nicht klar, ob Daniel einmal sprechen wird. Er braucht derzeit noch Windeln, und wir wissen nicht, wie lange noch. Eine Planbarkeit des Lebens? Das ist für uns unmöglich", sagt Dietmar Wagner.

Ungewiss sei auch, was Daniel machen werde, wenn er im Juni mit der Schule fertig sei. Pandemiebedingt seien derzeit keine Besichtigungen und Schnuppertage in Tageswerkstätten möglich. "Aber wir werden eine Lösung finden", sagt sein Vater. Seine Devise ist, nicht zu viel Zeit für Probleme zu verschwenden, die sich im Moment nicht lösen lassen.

Strategien für den Alltag

Auch Elisa Wagner hat sich Strategien zurechtgelegt, die ihr helfen, den Alltag gut zu bewältigen. Zunächst habe sie gelernt, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren und das Multitasking sein zu lassen. Dadurch sei sie wesentlich entspannter. Eine zweite Strategie ist die Reduktion. Reduktion der Arbeitszeit, der Aktivitäten, aber auch der Dinge. "Denn alles, was man hat, verursacht ja auch Arbeit", sagt die 41-Jährige. Auf vieles Materielle zu verzichten habe ihr Leben deutlich erleichtert – so wie der Umzug in eine kleinere Wohnung ohne Garten.

Was wirklich für ein schönes Leben notwendig ist, darüber unterhalten sich die Wagners regelmäßig. Um zu erkennen: nicht besonders viel. "Wir freuen uns über das, was wir haben, anstatt uns darüber zu ärgern, was wir nicht haben – und vielleicht ja auch gar nicht brauchen", sagt Dietmar Wagner.

Wer mit ihm und seiner Frau spricht, spürt ihre Gelassenheit, ihre Zuversicht – und ihre geschulte Bereitschaft, Situationen so anzunehmen, wie sie sind. (Lisa Breit, 3.4.2021)