Traditionelle Maßstäbe und Statistiken erfassen die neue wirtschaftliche Realität nicht immer, sagt Daniel S. Hamilton, Austrian Marshall Plan Foundation Distinguished Fellow und Leiter des Global Europe Program am Woodrow Wilson Center, im Gastkommentar.

In europäischen Medien verbreitet sich – ausgelöst durch einen Eurostat-Bericht – mehr und mehr der Irrglaube, dass China die USA als wichtigster Handelspartner der EU abgelöst hat. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein gänzlich anderes Bild.

Der Bericht der europäischen Statistikbehörde listet nur den Handel mit Gütern auf. Er zeigt, dass die Handelsströme zwischen der EU und China im Jahr 2020 eine Summe von 586 Milliarden Euro erreichen, zwischen der EU und den USA aber nur 555 Milliarden Euro. Doch der Handel zwischen den Ländern besteht nicht nur aus Gütern. Ganz wesentlich sind auch Dienstleistungen, die im Eurostat-Bericht unerwähnt bleiben. Der Handel mit Dienstleistungen ist in den vergangenen Jahren noch stärker gewachsen als jener mit Gütern. Mehr österreichische, europäische und US-amerikanische Jobs sind an Dienstleistungen gebunden als an Güter.

"Die Handelsbeziehungen mit China ähneln einer zweispurigen Landstraße, die transatlantischen eher einer zwölfspurigen Autobahn."

Obwohl die exakten Zahlen für das Jahr 2020 noch nicht verfügbar sind, zeichnen die Daten der ersten drei Quartale ein klares Bild. Der Handel mit Dienstleistungen zwischen der EU und den USA belief sich in diesem Zeitraum auf 296,3 Milliarden Euro – das ist fünfmal mehr als zwischen der EU und China (53,3 Milliarden Euro). Hochgerechnet auf das gesamte Jahr 2020 wird der Handel von Waren und Dienstleistungen zwischen der EU und China voraussichtlich bei 657 Milliarden Euro liegen, während jener zwischen der EU und den USA sich auf 950 Milliarden Euro belaufen wird – also fast 40 Prozent mehr.

Wer also die gesamten Handelsströme und nicht nur eine Art von Handelsströmen betrachtet, sieht, dass die USA der größte Handelspartner der EU sind und bleiben – wie schon seit Jahrzehnten.

Eine Beziehungsbaustelle

Die Handelsbeziehungen zwischen den USA und Europa mit China ähneln einer zweispurigen Landstraße, während die transatlantischen Handelsbeziehungen eher einer zwölfspurigen Autobahn ähneln. Die Landstraßen von und nach China sind voller Waren. Sie sind verkehrsreich und überfüllt. Jede Art von Unfall auf einer zweispurigen Landstraße kann den Verkehr stoppen. Das wurde zum Beispiel sichtbar, als die Lieferketten wegen der Pandemie unterbrochen wurden und der Zollkrieg zwischen den USA und China den Handel erschwert hat. Entlang der Landstraße gibt es schmale Radwege für Dienstleistungen. Die EU und China sind damit beschäftigt, eine neue Fahrspur für ihre Landstraße zu bauen – ein Investitionspfad, von dem man glaubt, dass er einen Teil dieses Verkehrs entschärfen und die Gesamtverbindungen verbessern könnte.

Trotz des im Dezember 2020 unterzeichneten umfassenden Investitionsabkommens zwischen der EU und China bleibt diese Investitionsspur jedoch eine Baustelle, da es aus den eigenen Reihen Widerstand gibt. EU-Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament müssen das Abkommen erst unterzeichnen.

Eng verbunden

Auf der Handelsstraße, die die EU mit den USA verbindet, gibt nicht nur weniger Geschwindigkeitsbegrenzungen und eine noch breitere Spur für Waren, sondern auch zusätzliche Spuren für Dienstleistungen, Investitionsströme und Verkäufe von Unternehmen auf jeder Seite des Atlantiks. Die transatlantischen digitalen Autobahnspuren übertragen 75 Prozent der globalen digitalen Inhalte. Die Innovationswege, auf denen sich Forschungs- und Entwicklungsströme bewegen, sind die intensivsten zwischen beiden transatlantischen Partnern. Die Beschäftigungsspuren bieten 16 Millionen Europäern und US-Amerikanern Beschäftigung. Daran lässt sich ablesen, wie viel enger die EU und die USA aneinander gebunden sind.

In den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 haben US-Unternehmen 55 Milliarden US-Dollar in Europa investiert – siebenmal mehr als chinesische Unternehmen in Europa. Und trotz der durch Pandemien ausgelösten Rezession verdienten US-Unternehmen 2020 254 Milliarden US-Dollar mit ihren Aktivitäten in Europa – 23-mal so viel wie mit Operationen in China.

Auch auf Österreichs amerikanischer "Autobahn" der Handelsströme fließt der Verkehr.
Foto: Imago

Das gilt auch für Österreich. Bis zu 140.000 Österreicherinnen und Österreicher verdanken ihre Arbeitsplätze entweder US-amerikanischen Firmen in Österreich, österreichischen Exporteuren, die in die USA exportieren, oder deren Zulieferern und Vertreibern. Jedes fünfte Produkt, das Österreich aus der EU exportiert, landet in den USA. Der Handelsumsatz beträgt 22,2 Milliarden US-Dollar. Und der pazifische US-Bundesstaat Kalifornien ist der größte Exportmarkt für österreichische Unternehmen in den USA. US-Firmen investierten allein im Jahr 2019 so viel in Österreich (circa sieben Milliarden US-Dollar) wie chinesische Firmen in ganz Europa. Und österreichische Unternehmen investierten 14 Milliarden US-Dollar in die USA – viermal so viel wie vor der Wirtschaftskrise 2008, und fast so viel wie chinesische Unternehmen in den USA (16 Milliarden US-Dollar).

Österreichs Rolle im transatlantischen Handel erscheint noch wichtiger, wenn man die Verflechtung von Firmen in den weltweiten Zulieferketten betrachtet. Mit der globalen Vernetzung geht einher, dass ein in die USA exportiertes Produkt aus Österreich zum Beispiel Bestandteile aus Rumänien oder China, Rohmaterialien aus der Ukraine oder Australien und Dienstleistungen aus der Türkei oder Schweiz beinhaltet. Gleichzeitig sind viele österreichische Exporte Bestandteile von deutschen, italienischen oder französischen Produkten, die ihre Abnehmer in den USA finden.

Traditionelle Maßstäbe und Statistiken erfassen diese neue wirtschaftliche Realität nicht immer. Doch wer hinter die Zahlen blickt, versteht, warum die Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU-Mitgliedsstaaten und den USA immer noch alle Superlative sprengen. (Daniel S. Hamilton, 24.3.2021)