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Wie es gerade um Bergkarabach steht, kann man auf Umwegen auch über einen Gesangswettbewerb herausfinden.

Foto: AP

Spanien errang seinen ersten Gewinn beim Eurovision Song Contest 1968 nicht ohne Stress im Vorfeld. Die Nummer La, La, La hätte Joan Manuel Serrat gern auf Katalanisch geträllert, wofür das Franco-Regime nur ein ¡No, No, No! übrighatte. So musste Massiel als Interpretin einspringen und "den Schas" en español gewinnen. Fast forward bis 2019, zur letzten Ausgabe des ESC, bevor 2020 Corona-bedingt pausiert werden musste. Da passte es Innenminister Matteo Salvini gar nicht, dass mit Mahmoud ein junger Rapper aus Mailand für Italien beim ESC antrat. Die "pro-immigrantische" Message, die mit dem Auftritt des Sohns eines ägyptischen Immigranten gesendet wurde, missfiel dem Lega-Chef.

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Die Türkei zog sich seit 2013 offiziell wegen ihrer Ablehnung der neuen Abstimmungsregeln aus dem ESC zurück, doch besiegelte der Gewinn der Austro-Dragqueen Conchita 2014 ihr Fernbleiben bis dato. Nicht der erste oder letzte Fall von Homophobie bei einem in der queeren Community gerngesehenen Event. Der Kosovo hingegen würde gern mitmischen, darf aber nicht. 2012 half Albanien aus und schickte eine kosovarische Sängerin ins Rennen. Einige arabische Staaten boykottieren den ESC, weil Israel mit dabei ist, obwohl sie teilnehmen könnten. Qualifizieren kann sich, wer zur EBU, der European Broadcasting Union, gehört, und die ist – skurril! – nicht auf Europa beschränkt.

Ein großes Experiment

All diese Beispiele belegen das Offensichtliche: So sehr die EBU, die den Song Contest seit 1956 ausrichtet, auch immer wieder darauf pocht, dass der Charakter des Wettbewerbs unpolitisch sei, ist der Song Contest neben dem Almauftrieb halluzinationserzeugender Glitzerfetzen in erster Linie gesungene Innen- und Außenpolitik und getanztes Nationenimage.

Als der Wettbewerb in den 1950ern eingerichtet wurde, geschah dies, um in Form eines großen Rundfunkexperiments die Kooperation der Länder Europas zu stärken. Im ersten Jahr nahmen sieben, in den 1960ern bereits mehr als doppelt so viele Länder teil. Diesen Mai werden es 40 sein. Und wie man sich als Nation darstellt, ist eben das eine große Politikum: Entweder der Act tritt als Sprachrohr einer Regierung auf, wie in Massiels Fall (Franco!) und wie es heuer im Fall des Beitrags aus Belarus sein könnte, oder der Act formuliert ein gesungenes Gegenprogramm zu dem der Regierung, wie es die russische Feministin Manizha zu tun gedenkt (siehe unten).

Eurovision Song Contest

Die dritte Möglichkeit besteht in einer Art Utopie: Der Act ist zwar politisch gewollt, soll aber ein offeneres Bild eines Landes transportieren als die Zustände zeigen, die dort eigentlich herrschen (Conchita).

Jugonostalgisch im Block voten

Politik wird freilich auch beim Voten gemacht. "Aufgrund der jüngsten Zeitgeschichte würde man nicht vermuten, dass die exjugoslawischen Länder untereinander oft hohe Punktzahlen vergeben. Einerseits ist das der gemeinsamen Sprache und dem gemeinsamen Musikmarkt geschuldet, andererseits der sogenannten Jugonostalgie: Regija, die verklausulierte Umschreibung für jenes Gebiet, das einmal der gemeinsame Staat war, ist noch immer ein wichtiger emotionaler Ankerpunkt. Nach jedem Eurovisionsabend werden in den Medien die Punkte verglichen, die ‚aus der Region‘ kamen", beobachtet die STANDARD-Journalistin Olivera Stajić. Tatsächlich gibt es zahlreiche datenjournalistische Belege dafür, dass das sogenannte Block-Voting – gewisse Länder haben einander punktemäßig auffällig lieb – existiert. Neben den exjugoslawischen Ländern sind das auch Duos wie Zypern und Griechenland, Schweden und Dänemark.

Beim ESC finden an einem Abend unglaublich viele Facetten von Politik eine Bühne. Harte territoriale Streitigkeiten treffen auf gesellschaftspolitische Themen wie Queerness und Body-Positivity. Toleranz trifft auf Restriktion, Botschaft auf Framing. Und das alles in Glitzerfetzen.

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Die Song-Contest-Aufreger 2021

Belarus wird niemanden etwas lehren

Die European Broadcasting Union will den Song Ya nauchu tebya der bekannt protestkritischen Band Galasy ZMesta so nicht zulassen. Es müsse ein neuer Beitrag her, oder das Lied, das laut EBU im Moment den "unpolitischen Charakter des Wettbewerbs infrage stellt", müsse modifiziert werden. Mit Zeilen, die frei übersetzt "Ich werde dir beibringen, wie man nach der Pfeife tanzt", bedeuten, würde der Song die Protestbewegung gegen Diktator Alexander Lukaschenko verhöhnen.

Russische Frau lehnt sich auf

Als Migrantin und Feministin ist die 29-jährige Sängerin Manizha, die in Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe geboren wurde, Russlands Konservativen gleich in doppelter Hinsicht ein Dorn im Auge. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte sie in ihrem Clip zum Song Mama die Statistik zu häuslicher Gewalt in Russland. "Every Russian woman needs to know / You’re strong enough", singt Manizha nun im auf Englisch gehaltenen Refrain ihrer Eurovision-Nummer Russian Woman.

Zypern kommt der Teufel spanisch vor

Nachdem sich Zypern in den letzten Jahren mit großen Nummern anständig beim Song Contest verhalten hat, sorgt der diesjährige Beitrag der griechische Sängerin Elena Tsagrinou, El Diablo, bei den Orthodoxen für fegefeuerartige Hitzewallungen. Zwar geht es in dem Song nicht um den Beelzebub himself, sondern um einen teuflischen Mann, der offenbar auf Spanisch anzusprechen ist (warum?), die Kirche bat den Staatssender trotzdem, das böse Lied zurückzuziehen. Dieser winkte im Sinne der Kunstfreiheit ab.

Armenien hat andere Sorgen

Armenien wird aufgrund der "jüngsten Vorkommnisse" nicht am 65. Eurovision Song Contest teilnehmen. Nach dem Krieg mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach befindet sich das Land in einer massiven Regierungskrise. Somit verbleiben im ESC-Tournament noch 40 Nationen. Bereits 2012 hatte Armenien am ESC nicht teilgenommen, weil der Wettbewerb in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku ausgetragen wurde – man gab Sicherheitsbedenken als Grund für das Fernbleiben an. (Amira Ben Saoud, 24.3.2021)