Kurt Kochberger zeigt Lisa Gadenstätter seine Kaffeemaschine und damit die Hindernisse seines Alltags.

Wenn Kurt Kochberger seine Kaffeemaschine bedient, konzentriert er sich auf die Symbole. Muss er, denn der Wiener lebt in einer Welt, in der Buchstaben Angst machen und vor allem eines bedeuten: eine Barriere. Kochberger kann weder gut lesen noch schreiben. Um einem Fahrscheinautomaten das richtige Ticket zu entlocken, braucht er bis zu 20 Minuten – und nicht selten die Hilfe anderer Passanten.

Mit seiner Schwäche ist Kurt in Österreich nicht allein. Bei weitem nicht, denn jeder neunte Erwachsene kann entweder gar nicht oder nur unzureichend lesen oder schreiben. Das sind 960.000 Personen – 600.000 davon haben Deutsch als Erstsprache und sollten durch das österreichische Bildungssystem gegangen sein. Und dennoch sind sie auf der Strecke geblieben.

Scham und viele Gründe

Mit diesen alarmierenden Zahlen konfrontiert ORF-Redakteurin Lisa Gadenstätter die Zuseher in ihrer neuen "Dok 1"-Folge "Leben ohne Lesen und Schreiben", die am Mittwoch um 20.15 Uhr in ORF 1 zu sehen ist. Dass Betroffene darüber reden, sei nicht selbstverständlich: "Sie genieren sich sehr, weil leider viele der Meinung sind, dass Analphabetismus etwas mit Dummheit zu tun hat", sagt Gadenstätter. Das sei falsch, denn die Gründe seien vielfältig. Dazu zählen etwa mangelnde Förderung als Kind, Lese- und Lernschwächen oder die nicht vorhandene Möglichkeit eines Schulbesuchs.

Wie im Falle der Rumänin Livia, deren Mutter sich die Schule für ihre acht Kinder nicht leisten konnte. Livia, jetzt selbst dreifache Mutter und in Graz lebend, spricht zwar gut Deutsch, kann aber weder lesen noch schreiben. Das Manko möchte sie mit einem Alphabetisierungskurs wettmachen: "Mein Traum ist, ein Buch zu lesen."

Schule und Persönlichkeitsstruktur

Schuld sei aber keineswegs nur die Schule alleine, sagt Sonja Muckenhuber, Leiterin des Instituts für Bildungsentwicklung Linz (BILL): "Man darf die Persönlichkeitsstruktur nicht vergessen." Die ist beim 19-jährigen Matthias recht komplex. Er besuchte neun Jahre lang eine Montessorischule und kann nur Druckbuchstaben entziffern. Seine Mutter spricht von einer Art "Ekel vor Buchstaben", er selbst sagt, dass er sie nicht brauche. Treffen würden über Koordinaten ausgemacht, er navigiere mit Google Maps, Siri komme bei Bedarf zur Hilfe und der ÖBB-Routenplaner Scotty suche die Züge raus, erzählt er von seinem Alltag. Seine Stärken liegen nicht im Alphabet, sondern im "Tüfteln und Basteln". In dem Bereich möchte er sich auch einmal selbstständig machen.

Ein anderer Protagonist ist der Kärntner Ronald, der als Kind in einer Sonderschule landete. Er habe sich zwar nicht wie ein "Tocker", Dialektwort für Trottel, gefühlt, der wurde ihm aber eingeredet, schildert er: "Man fängt an, sich zurückzuziehen." Als er eine Lehre als Konditor machen wollte, wurde er aufgrund seines Status als Sonderschüler nicht genommen. Trotz vieler Entmutigungen in seiner Kindheit und Jugend hat Ronald einen Job als Glasschleifer und Glasbeleger gefunden. Aus seinem Rückzug wurde erst spät eine Offensive: Er lernte lesen. Ein Beispiel, das Mut macht.

Lisa Gadenstätter mit dem 19-jährigen Matthias, der sich nicht für Lesen und Schreiben interessiert.
Foto: Screenshot/ORF

Der STANDARD hat ORF-Journalistin und Sendungsmacherin Lisa Gadenstätter ein paar Fragen zu "Dok 1: Leben ohne Lesen und Schreiben" gestellt.

STANDARD: Mit welchen Hürden sind Betroffene im Alltag am häufigsten konfrontiert?

Gadenstätter: Es sind die Dinge des alltäglichen Lebens, die für lesende Menschen völlig normal erscheinen. Zum Beispiel ist es für Personen, die schlecht lesen und schreiben können, fast unmöglich, einen Fahrschein zu kaufen, ein Formular am Amt auszufüllen oder Straßennamen zu lesen. Analphabeten haben deshalb alle möglichen Tricks entwickelt, um im Alltagsleben nicht aufzufallen. Sie bandagieren sich ihre Arme, um nicht schreiben zu müssen. Sie sagen, sie hätten ihre Brille vergessen, um nicht lesen zu müssen. Sie verzichten im schlimmsten Fall auf ihre Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Arbeitslosengeld, weil sie die Formulare nicht ausfüllen können. Und sie genieren sich, das zuzugeben.

STANDARD: Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Gadenstätter: Ich bin in einer U-Bahn-Station von einem Mann angesprochen worden, der mich gebeten hat, ihm etwas vorzulesen. Danach haben Regisseurin Nina Dallos und ich zu recherchieren begonnen und wir haben gemerkt: Analphabetismus ist weiter verbreitet, als wir glauben. Fast eine Million Menschen können in Österreich nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben.

STANDARD: Wer versagt? Die Politik? Das Schulsystem?

Gadenstätter: Das für mich Interessante bzw. Erschreckende an der Zahl der Analphabeten: An die 600.000 Personen haben Deutsch als Erstsprache. Das sind also Menschen, die in Österreich geboren sind, Deutsch als Erstsprache haben und durch unser Schulsystem gegangen sind. Die Gründe für Analphabetismus sind vielfältig. Es geht um Vernachlässigung und unzureichende Förderung in der Familie und in der Schule. Da ist die Politik definitiv gefordert.

STANDARD: War es schwierig, Leute zu finden, die sich vor die Kamera trauen, da es ja doch ein gewisses Stigma ist?

Gadenstätter: Es war wirklich nicht leicht. Vier Menschen haben uns dann ihr Vertrauen geschenkt. Sie waren im Gespräch mit mir sehr offen und ehrlich, das hat mich sehr gefreut, und das weiß ich sehr zu schätzen. Ich bin auch voller Bewunderung für jeden, der im Erwachsenenalter lesen und schreiben lernt. Wie anspruchsvoll das ist, das zeigen wir auch in der Doku.

STANDARD: Wie haben Sie das erlebt: Ist viel Scham im Spiel?

Gadenstätter: Ja, viele Betroffenen genieren sich sehr. Weil leider viele Menschen der Meinung sind, dass Analphabetismus etwas mit Dummheit zu tun hat. Das ist aber völlig falsch. Wegen diesem Stigma bleiben Betroffene auch meist im Hintergrund, im Abseits.

STANDARD: Macht der ORF als öffentlich-rechtliches Medium genug, um Benachteiligte medial "mitzunehmen", oder bräuchte es nicht noch viel mehr Maßnahmen wie Audiobeschreibungen oder Untertitelungen?

Gadenstätter: Der ORF arbeitet ambitioniert am Ausbau seiner Barrierefreiheit und hat sehr viele Angebote für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen durch Untertitelung und Audiodeskription. Aber auch Angebote in "Leichter Sprache" für Menschen mit Lernschwierigkeiten wurden in den vergangenen Jahren ausgebaut: Radio Wien sendet jeden Sonntag Nachrichten in einfacher Sprache, der ORF Teletext und orf.at haben entsprechende Informationen. Aber ich glaube, dass wir alle viel mehr tun könnten. Vor allem können wir viel mehr Verständnis aufbringen für Menschen, die schlecht lesen oder schreiben können. Die Inklusive Lehrredaktion, die seit Anfang 2020 ihre neue Heimat im ORF gefunden hat, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

STANDARD: Gerade in Zeiten von Corona sind Informationen über das Virus essenziell: Bleiben hier nicht viele auf der Strecke, die nicht erreicht werden können?

Gadenstätter: Das ist ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt. Auch hier gibt es Gott sei Dank Informationen in einfacher Sprache. Aber auch hier: Es könnte mehr sein. Da sind auch wir Journalisten und Journalistinnen in der Pflicht. Es kommt nicht darauf an, dass wir möglichst kompliziert und mit vielen Fremdwörtern Moderationen oder Artikel schreiben. Es kommt darauf an, dass die Menschen verstehen. Oft fällt es uns nicht auf, wie kompliziert wir schreiben, wie viele Fremdwörter und schwammige Begriffe sich in unseren Texten und in unserer Sprache einschleichen. (Oliver Mark, 24.3.2021)