Vertiefte sich Autor Christoph Ransmayr im letzten Roman, "Cox", ins Uhrmacherhandwerk, ist es nun das flüssige Element.

Foto: Magdalena Weyrer

In etwa 150 Jahren sind Europas Nationen zerfallen, in "Kommissariate, Republiken, Grafschaften, Alpenbezirke, Matriarchate, Patriarchate, Herzogtümer und welche Namen sich die Zwerge auch immer gaben". Hier spielt Christoph Ransymayrs neuer Roman Der Fallmeister. Jeder dieser Zwergstaaten pflegt eigene Hymnen, Wappen und Heldenerzählungen, doch damit nicht genug Übel. Sickergifte der Industrie verseuchen das Grundwasser, und obwohl das Polareis schmilzt und der Meeresspiegel ansteigt, herrscht Dürre und gibt es sauberes Trinkwasser nur noch für die Reichsten, weswegen Wasserkriege toben. Die wahren Herrscher der Welt sitzen in multinationalen Konzernen, die mit den nationalen Miniparlamenten leichtes Spiel haben. Hie und da protestieren Bombenleger.

Man könnte den Großen Fall in der im Herzen des Kontinents liegenden Grafschaft Bandon geradezu eine Insel der Seligen nennen. Immerhin strömt hier noch der Weiße Fluss durch und ins Schwarze Meer. Und immerhin feiert man hier Volksfeste mit Blasmusik zu Ehren des heiligen Nepomuk, des Schutzpatrons der Flößer und Schleusenwärter. Doch ein solcher Wärter ist der titelgebende Fallmeister: 30 Jahre lang hat er ein Kanalsystem gewissenhaft reguliert, mit dem er Booten den Aufstieg und Abstieg in der Felswand des Falls ermöglichte. Bis eines Tages eine Schleuse versagte und fünf Menschen starben. Ein Jahr später ließ er sich selbst den Wasserfall hinabtreiben. Hatte er die Opfer bewusst getötet? Nagte die Schuld an ihm? Diese Fragen treiben den Erzähler der etwas über 200 Seiten, des Fallmeisters erwachsen gewordenen Sohn, nun um. Er glaubt an ein "Verbrechen".

Ransmayr steigt als Autor zurückblickend in die Familiengeschichte ein: die Glasknochenkrankheit der Schwester, zu der den Erzähler eine inzestuöse Liebe verbindet; die laute Wut und Weltabscheu des Vaters aus dem Gefühl eines eigenen Bedeutungsverlustes; das Fehlen der Mutter, die als einstige Zuwanderin infolge ethnischer "Säuberungen" wieder in ihre adriatische Heimat abgeschoben wurde. Sie hätte den Vater aber gewiss auch so verlassen, sind sich die Kinder sicher.

Zeuge der Apokalypse

Der Sohn taugt deshalb so gut zum Erzähler, weil er als Hydrotechniker einer der wenigen Privilegierten in dieser trüben Welt ist. Er darf für seine Aufträge in digital versiegelten Zügen über streng kontrollierte Grenzen hinweg reisen und genießt weitere Freiheiten. Am Tonle Sap und Mekong in Kambodscha paddelnd, brüllt er also seine Wut auf den toten Vater hinaus. Motivisch ist das kein Zufall: Der Tonle Sap ist ein Fluss, der seine Fließrichtung ändert, wenn Gegenströmungen stark genug sind, sein Wasser quellwärts zu drängen. So ereilt den Helden an jenem Ort auch der berufliche Befehl, die Heimreise an- und in die Fußstapfen des Vaters zu treten.

Die individuellen Schicksale sind als zentrale Handlung jedoch nicht allzu interessant, die Figuren gehen einem nicht nahe. In einem Netz aus biblischen Anspielungen (Vater und Sohn bauen Tiere aus Lehm) und altertumsgeschichtlichen Kosenamen ("Pharaonin") steckt die individuelle Psychologie zurück. Ob der Held als Bub mit der Schere Hornissen jagt oder seiner Schwester, Jahre später die Frau eines blauhaarigen Deichgrafen an der Nordsee, bei einer Vergewaltigung das schwache Genick bricht: Es geht um Schuld, Gnade und Grausamkeit, raunt der Roman uns immer wieder zu. Bloß läuft das alles doch ins Leere.

Imposante Mahnung

Das Ereignis des Romans sind somit seine dystopischen Kulissen, gebaut aus Sätzen wie: "Die Quoten, mit denen die Zahl der in die Grafschaft Bandon aus Kriegs- und Elendsgebieten eingewanderten Flüchtlinge oder aus anderen Gründen Zuflucht suchenden Barbaren, wie es abschätzig hieß, geregelt wurden, waren innerhalb von nur zwei Jahren ein weiteres Mal gesenkt worden. Hatten gesenkt werden müssen, wie es in jenen Bekanntmachungen der Behörde hieß, die, mit Statistikbalken, Kurven und manchmal auch Fotos von heillos überfüllten Lagern illustriert, dreimal am Tag zu den ersten Takten der Bandoner Hymne über die Bildschirme huschten."

Leider ist die Sprache nicht immer so exakt, und der Roman wächst, anders als die Flüsse, wo er spielt, nicht zum reißenden Strom an. Die getragenen Sätze geraten mit zunehmender Länge gewunden, womöglich ist ihnen der Stoff ausgegangen. Doch mit seiner Schreckensvision von Nationalismus, Verteilungskampf, Überwachung und daraus folgender Unmöglichkeit von Gemeinschaft ist Der Fallmeister zumindest eine imposante Mahnung. (Michael Wurmitzer, 24.3.2021)