Auf den ersten Blick ist es ein riesiger Sprung, den das Gnome-Projekt da vornimmt. Auf Gnome 3.38 folgt Gnome 40. Doch die Entwickler des Linux-Desktop-Projekts beeilten sich rasch, die Erwartungen im Rahmen zu halten. Es handle sich hier lediglich um eine Vereinfachung des Versionierungsschemas. Statt Gnome 3.40 gibt es nun Gnome 40, als nächstes soll im Herbst dann Gnome 41 erscheinen. Also eigentlich ein ganz normales Update im üblichen sechsmonatigen Rhythmus. Und doch auch wieder nicht. Bringt die neue Version doch sowohl an der Oberfläche als auch bei der Basissoftware die wichtigsten Änderungen seit Jahren.

Vorgeschichte

Der grundlegende Aufbau eines Gnome-Desktops – oder genauer der ihn umfassenden Gnome Shell – geht bereits auf das Jahr 2011 zurück. Damals wurde Gnome 3.0 veröffentlicht, das eine große Abkehr von der 2.x-Reihe darstellte – und einst für ziemlich "angeregte" Diskussionen sorgte. Über die Jahre wurden zwar viele Detailverbesserungen vorgenommen, die dahinterstehenden Konzepte blieben aber weitgehend gleich. Dass sich das mit Gnome 40 nun ändert, argumentieren die Entwickler mit dem Ergebnis ausführlicher Nutzerstudien.

Nach dem Login geht es direkt in die Aktivitätsübersicht. Der Desktop ist bereit, mit Anwendungen gefüllt zu werden.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

Was nach einem ersten Start in den neuen Desktop sofort auffällt: Statt – wie bisher – einen leeren Desktop zu präsentieren, wird nun direkt die sogenannte Aktivitätsübersicht geöffnet. Damit soll der Zugriff auf zu startende Programme vereinfacht werden, immerhin stehen diese dann gleich zur Verfügung. Eine zweite unübersehbare Neuerung: Das für die favorisierten Programme genutzte Panel – hier Dash genannt – ist von der linken Seite an die Unterseite des Bildschirms gewandert. Damit schließt man sich nach Jahren des beharrlichen Alleingangs dem bei vielen anderen Desktops genutzten Design an.

Links und rechts

Die gewöhnungsbedürftigste Änderung ist aber eine andere: Statt vertikal sind die virtuellen Desktops nun horizontal angeordnet. Auch das ein seit langem von anderen Umgebungen – darunter auch Gnome 2.x – favorisierter Aufbau. Für Gnome 3 gewohnte Nutzer bedeutet dies aber nun ein Umdenken, vor allem, wenn man viel auf Tastaturkürzel setzt. Dafür liefert das neue Design stärkere visuelle Hinweise auf die unterschiedlichen Desktops, werden diese doch neben dem gerade angezeigten Desktop angedeutet. Zudem gibt es über all dem eine Art Miniaturansicht, mit der Fenster per Drag-and-drop umsortiert werden können. Deren Darstellung erwies sich im Test aber noch als etwas fehleranfällig – zum Teil wurde sie gar nicht angezeigt, manchmal stimmte der Inhalt nicht mit den real dort befindlichen Programmen überein. Das sollte sich aber mit einem Folge-Update rasch ausräumen lassen.

Aufbau

Generell ist das Verhältnis von Desktop zu Aktivitätsübersicht wie unterschiedliche Zoom-Stufen zu verstehen. Was damit gemeint ist, zeigt sich am besten anhand der ebenfalls stark ausgebauten Nutzung von Touchpad-Gesten. Eine Wischbewegung mit drei Fingern nach oben verkleinert die Darstellung des Desktops immer weiter, bis die Aktivitätsübersicht zu sehen ist. Eine zweite Geste in diese Richtung zoomt dann noch weiter heraus, bis die vollständige Anwendungsliste zu sehen ist und nur mehr klein darüber die virtuellen Desktops. Optisch ist alles sehr ansehnlich gelöst. Die Drei-Finger-Geste kommt übrigens auch noch für andere Aufgaben zum Einsatz. Seitlich ausgeführt wechselt sie von einem virtuellen Desktop zum nächsten. Wer lieber Tastaturkürzel verwendet: Diese sind analog über Super+Alt+links/rechts/rauf/runter zu erreichen.

Die verschiedenen "Zoom"-Stufen des Desktops. Zunächst die normale Ansicht.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD
Gefolgt von der Aktivitätsübersicht.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD
Schlussendlich die Anwendungsliste. Programme lassen sich dabei gezielt mittels Drag-and-drop auf dem gewünschten virtuellen Desktop öffnen.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

Wer sich dabei wundert, wie diese Anordnung mit einem Multi-Monitor-Betrieb zusammenpasst – immerhin stehen diese ja üblicherweise auch horizontal nebeneinander: Im Kern ändert sich hier wenig, kommen virtuelle Desktops doch bei Gnome von Haus aus ohnehin nur bei primären Monitoren zum Einsatz. Trotzdem mag das auf den ersten Blick unlogisch wirken. In der Praxis erweist sich dies aber als geringeres Problem als erwartet. Als sehr nützlich erweist sich zudem, dass die wichtigsten Eckpunkte beim ersten Start mithilfe der Gnome-Tour-Anwendung erklärt werden.

Runde Ecken und mehr

Zu all dem gesellt sich diverser optischer Feinschliff, etwa indem in der Aktivitätsübersicht nun bei den einzelnen Programmfenstern groß die zugehörigen Icons dargestellt werden. Außerdem gab es erneut einige Optimierungen am hinter der Gnome Shell stehenden Fenstermanager Mutter. So werden alle Eingaben nun in einem eigenen Thread ausgeführt, was einige bisher nervige Verzögerungen ausräumt. Auch sonst gab es diverse Performance-Optimierungen, auch wenn ehrlicherweise gesagt werden muss, dass diese sich in der Praxis nicht bemerkbar machen. Im Test erwies sich Gnome 40 genau genommen eine Spur langsamer als seine Vorgänger, was an dem grafisch etwas aufwendigeren Design liegen könnte – oder eben daran, dass dies noch nicht so gut optimiert wurde wie der Vorgänger. Ebenfalls interessant: Der Gnome-Desktop startet nun von Haus aus komplett ohne X11-Support. Das dafür zuständige XWayland wird erst auf Bedarf nachgeladen, die Gnome-Komponenten selbst brauchen es aber nicht mehr.

Die optischen Anpassungen beschränken sich nicht nur auf die Gnome Shell selbst, auch beim Desktop-Theme gab es einige Anpassungen. Der Stil wirkt nun generell etwas weicher und versucht harte Kanten zu vermeiden. Auch zeigen sich bei vielen Programmen stärker abgerundete Ecken als bisher, und die Scrollleisten sind etwas breiter geworden.

Besseres Wetter

Die Neuerungen an den mitgelieferten Programmen halten sich hingegen in dem für den sechsmonatlichen Zyklus zu erwartenden Rahmen. Die größte Überarbeitung hat dabei Gnome Weather erfahren, dessen Oberfläche komplett neu gestaltet wurde. Das Programm zeigt nun von Haus aus stündliche Prognosen für den Temperaturverlauf an, alternativ gibt es eine Zehn-Tages-Prognose. In Summe macht dies Gnome Weather erheblich nützlicher als zuvor.

Gnome Weather hat eine komplette Neugestaltung erfahren.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

Einige Detailverbesserungen gab es beim Dateimanager, der einst unter dem Namen Nautilus firmierte. Das reicht von einem komplett neu gestalteten Einstellungsdialog über die Möglichkeit, Dateien nach dem Erstellungsdatum zu sortieren, bis zu einer besseren Abschätzung der für längere Dateioperationen benötigten Zeit. Auch der Umgang mit Konflikten bei Kopier- oder Verschiebevorgängen wurde verbessert. Zudem kann Gnome Files nun endlich selbst mit passwortgeschützten Archivdateien umgehen, und bei der manuellen Eingabe in der Adresszeile gibt es jetzt Autovervollständigung.

Software

Eigentlich sollte man meinen, dass der Softwarezentrale in einem aktuellen Desktop eine besonders wichtige Rolle zukommt, und doch wirkt Gnome Software oft etwas vernachlässigt. Mit Gnome 40 versucht man nun, einige der offensichtlichsten Probleme auszuräumen. So wird jetzt ein Versionsverlauf angeboten. Noch besser wäre allerdings, wenn dieser tatsächlich genutzt würde. Bei vielen Anwendungen ist diese Liste derzeit nämlich leer. Zudem hat man die Frequenz der Update-Reminder reduziert und weist klarer aus, aus welcher Quelle – also etwa ob von Flathub oder Hersteller-Repository – die jeweilige Anwendung kommt. Die mannigfaltigen Probleme mit der Zuverlässigkeit und Performance der Anwendung – vor allem wenn Kommandozeile und Gnome Software parallel benutzt werden – verbleiben aber.

Der Gnome-Browser (auch bekannt als Epiphany) hat ein komplett neues, "dynamisches" Tab-Design erhalten, das besser mit einer hohen Anzahl von geöffneten Tabs umgehen kann. Und wer will, kann jetzt auch die Autosuggest-Funktion von Google in der Adresszeile verwenden – von Haus aus ist das aber natürlich deaktiviert. Bei Gnome Maps wurden die Informations-Boxen für Orte neu gestaltet, in denen etwa Details aus Wikipedia präsentiert werden.

Die neue Versionshistorie in Gnome Software.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

GTK4

Neben dem Umbau der Gnome Shell hat Gnome 40 aber noch mit einer zweiten großen Neuerung aufzuwarten. Mit GTK4 gibt es seit Mitte Dezember nämlich eine neue Generation jenes grafischen Toolkits, das von Gnome-Anwendungen zur Erstellung der grafischen Oberfläche genutzt wird. Dieses Upgrade war vier Jahre lang in Entwicklung, die Neuerungen sind also umfassend. Sie reichen von vielen neuen Optionen zur hardwarebeschleunigten Darstellung des Geschehens über Video-Support direkt in GTK über verbesserte UI-Transformationen bis zu skalierbaren Listen. Mit Gnome 40 wird übrigens bereits GTK 4.2 ausgeliefert, das zusätzlich auch noch einen deutlich verbesserten OpenGL-Support mit sich bringt, der ursprünglich für die macOS-Version von GTK entwickelt wurde.

Mit dem Versionsprung auf Gnome 40 hat das Update auf GTK4 übrigens nichts zu tun – auch wenn GTK3 dereinst Gnome 3.0 zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil will das Gnome-Projekt die Entwicklung des Toolkits stärker von jener des restlichen Desktops entkoppeln. In der Praxis ist all das derzeit aber ohnehin noch weitgehend Theorie: Bisher wurde (fast) keines der zentralen Gnome-Programme auf GTK4 portiert. Die alleinige Ausnahme stellt die Gnome Shell dar, deren Erweiterungssupport nun auf der neuesten Generation des Toolkits aufsetzt. Für Entwickler entsprechender Extensions heißt dies folgerichtig, dass sie ihre Entwicklungen einmal mehr für die neue Version anpassen müssen, wenn sie Einstellungsdialoge anzeigen.

Die Tastatureinstellungen wurden ebenfalls neu gestaltet.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

Ebenfalls bereits auf Basis von GTK4 erneuert wurde GTKSourceview 5, eine Engine zum Anzeigen von Text samt Syntax Highlighting, die von vielen Editoren verwendet wird. Wer nicht gerade den wenig bekannten Gnome Text Editor nutzt, hat davon aber auch noch wenig, das offiziell in Gnome enthaltene Gedit nutzt nämlich derzeit weder GTK4 noch GTKSourceview 5.

Verfügbarkeit

Gnome 40 steht in Form des Quellcodes der einzelnen Komponenten von der Seite des Projekts zum Download bereit. Parallel dazu wird die neue Version in den kommenden Tagen in die Entwicklungsversionen diverser Linux-Distributionen einfließen. So soll etwa das kommende Fedora 34 auf Gnome 40 basieren, bei Ubuntu 21.04 soll hingegen größtenteils das ältere Gnome 3.38 zum Einsatz kommen, da man die größeren Umbauten nicht mehr ausreichend testen konnte. Wer nur einmal in Gnome 40 hineinschnuppern will, dem sei der Griff zu Gnome OS angeraten: Dieses bietet einen täglich aktualisierten Stand der Gnome-Entwicklung an und kann einfach in einer Virtualisierung installiert werden. (Andreas Proschofsky, 24.3.2021)