Olivier Duhamel, bis zu diesem Jänner Leiter des Stiftungsrates von Sciences Po, wird sexueller Übergriffe beschuldigt.

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An Prestige fehlt es dem Institut d’études politiques wahrlich nicht: Von den internationalen Schulen für Politikwissenschaften nimmt Sciences Po, so der Übername, im maßgeblichen QS World University Ranking den zweiten Rang ein – direkt hinter Harvard, noch vor Oxford. Mit François Mitterrand, Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und jetzt Emmanuel Macron haben alle französischen Staatspräsidenten seit 1981 das Institut absolviert.

Einen entsprechend imposanten Campus würde man in Paris allerdings vergeblich suchen: Die 1872 gegründete und 1945 verstaatlichte "Grande école" (Eliteschule) ist auf unscheinbare Standorte im Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés verteilt. Die erste Lektion von Sciences Po lautet: Die wahre, die ungeteilte Macht übt sich in den Hinterzimmern der besseren Pariser Viertel aus.

Symbolträchtige Holzbank

Das Hauptgebäude von Sciences Po, intern "le 27" genannt, liegt in der kleinen Nebenstraße Saint-Guillaume, Hausnummer 27. In der Vorhalle eilt Jung und Alt achtlos an der "Péniche" vorbei. Diese lange, doppelte Holzbank ist ein symbolträchtiges Herzstück der französischen Republik. Auch Olivier Duhamel, bis zu diesem Jänner Leiter des Stiftungsrates von Sciences Po, ließ sich einmal dort fotografieren – mit abgrundtiefem, furchterregendem Blick.

Der einflussreiche Verfassungsrechtler und Meinungsmacher, Berater von Ministern und Präsidenten, der fast täglich im französischen Fernsehen zu sehen war, ist heute schlicht von der Bildfläche verschwunden. Im Jänner bezichtigte ihn seine Stieftochter Camille Kouchner des (heute verjährten) Missbrauchs ihres Bruders und anderer sexueller Übergriffe. Der Herrscher über das Machtzentrum Sciences Po war durch K. o. in Buchform erledigt.

Verlogenheit und Omertà

Im Februar musste auch sein Protégé Frédéric Mion von seinem Posten als Direktor von Sciences Po zurücktreten. Der agile Charmeur hatte die Vorwürfe gegen Duhamel seit zwei Jahren gekannt, aber verschwiegen. Was er im Jänner zuerst auch noch bestritt. Mions Verhalten zeugte von der Verlogenheit und Omertà, die sich in den Pariser Eliten in solchen Fällen schützend über ihre eminentesten Vertreter legt.

Mions Vorgänger Richard Descoing war 2012 in New York tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden worden, nachdem er mit zwei Callboys zusammen gewesen war, wie eine Le Monde-Journalistin in einem Buch enthüllte. Es wurde elegant ignoriert. Über solche "privaten" Dinge spricht man bei Sciences Po nicht gerne. Presseanfragen bleiben unbeantwortet, während die Professoren ihren Schülerinnen und Schülern die Vorzüge politischer Transparenz näherbringen.

Die Studentinnen weichen also in die sozialen Medien aus. Unter dem Hashtag #SciencesPorc outen sie seit Tagen die "porcs" (Schweine), die sich an der Schule an jungen Frauen vergreifen. Solche Gewalt beschließt den Aussagen zufolge vorzugsweise feuchtfröhliche "Einführungsabende".

Ermittlungen wegen Vergewaltigung

Die französische Justiz hat rasch geschaltet und seit Februar mehrere Ermittlungen wegen Vergewaltigung an Sciences-Po-Ablegern in Paris, Bordeaux, Rennes und Straßburg gestartet. Doch obwohl die sexuellen Übergriffe von einer tief verankerten "Machokultur" (so die Zeitschrift Marianne) an der Polituni zeugen, belässt es die Schule bei schönen Worten und der Einsetzung einer Arbeitsgruppe.

Die Interimsleitung hat den Kopf derzeit woanders: Nach den Rücktritten Duhamels, Mions und sechs anderer Veteranen sind die beiden zentralen Posten der Schule – Direktion und Stiftungsvorsitz – neu zu besetzen. Das Gerangel bietet den Politikstudierenden, zukünftigen Lenkern der Nation, Anschauungsunterricht in Sachen obskurer Kabinettspolitik. Dass zwei Kandidaten in der engeren Auswahl sein sollen, wurde erst nach ihrer Anhörung bekannt.

Macht und Machiavelli

Das demokratische Auswahlverfahren für diesen Hort der französischen Demokratie ist in Wahrheit "monarchisch", wie Le Figaro schreibt: Die letzte Entscheidung fällt im Präsidentenpalast. Macron – der als Student in Sciences Po eine Diplomarbeit über Niccolò Machiavelli verfasst hatte – verfolgt auch ein persönliches Interesse: "Er rekrutiert an der Schule seine Seilschaften", meint der Politologe Dominique Reynié. (Stefan Brändle aus Paris, 25.3.2021)