Wien – Die Kritik an der Impfstoffbeschaffung von Türkis-Grün gegen das Coronavirus reißt nicht ab: Donnerstagvormittag um 10 Uhr trat die rot-blau-pinke Opposition an die Öffentlichkeit, um erneut den "Skandal" rund um die von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) anfangs verordnete Obergrenze von 200 Millionen Euro im Vorjahr anzuprangern.

Gesundheitsminister Anschober (Grüne) und Finanzminister Blümel (ÖVP): Rund um den Impfdosenstreit tun sich neue Dokumente auf.
Foto: APA / Georg Hochmuth

SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried hat bereits zur Wochenmitte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Nationalrat wieder lautstark vorgehalten, die ÖVP wälze die Verantwortung auf die Beamten des Gesundheitsministeriums unter Rudolf Anschober (Grüne) ab – vor allem auf den abgesägten Impfkoordinator Clemens Martin Auer. Dazu erhob der SPÖ-Mann eben Vorwürfe, dass das Finanzressort dem Gesundheitsressort anfangs einen 200-Millionen-Euro-Deckel verpasst habe – das sei belegt. "Wir haben E-Mails, wo das Gesundheitsministerium darauf drängt, dass die Grenze höher ist, und die ÖVP hat es verweigert! Die Beamten haben genau das bestellt, was sie bestellen durften – und keinen Cent mehr!"

Mittlerweile liegt dem STANDARD ein Dokument vor, das den E-Mail-Verlauf vor einem Ministerratsvortrag von Anschober letzten Sommer zur wahrscheinlich um den Jahreswechsel 2020/2021 startenden Impfkampagne enthält, sodass mindestens acht Millionen Österreicher alsbald geimpft werden können. Konkret ist da zur anstehenden Impfstoffbeschaffung zu lesen, dass der damals noch als Impfkoordinator tätige Auer am 27. Juli 2020 in einer internen E-Mail launig darüber informierte: "Noch was dazu. HBK (Herr Bundeskanzler, Anm. d. Red.) schreibt in seinem Brief von einer Gleichsetzung der Dosen mit der Bevölkerung = 8, irgendwas Dosen. Die meisten Impfstoffe brauchen aber 2 Dosen. Was gilt jetzt? Will er 8 Mio Menschen impfen? Dann brauch ma 16 Mio Dosen. In deinem Brief an ihn hab ich von 8 Mio Regiments gesprochen = also Impfobjekte."

Zu diesem Zeitpunkt stellte Auer aber bereits klar: "Nein. Wir reden nicht von 50-100 Millionen Euro. Sondern jenseits von 100 Millionen Euro. Bei den Covid-Impfstoffen denke ich alles zusammen (für Impfstoffe, Material, Honorare etc.) von ca. 250 Millionen Euro, unter der Maßgabe, dass wir 8 Millionen Menschen impfen. Habe ich mir heute Nachmittag so zusammengerechnet / geschätzt."

Influenza oder Corona?

Ebenfalls am 27. Juli antwortete darauf Person "A." mit den E-Mail-Initialen "ar", also wohl Anschober, in die interne Runde im Gesundheitsministerium: "Wurden wir schon mehrfach ersucht, einen Ministerratsvortrag zu erstellen? Oder verwechselt BKA (Bundeskanzleramt, Anm.) hier influenza mit corona? Und ansonsten: Da müssen wir wohl in den Ministerratsvortrag die Frage der Finanzierung der Bestellung reingeben. Denn mit HFM (Herr Finanzminister, Anm.) werde ich bis Mittwoch kein Einvernehmen schaffen. Clemens, wir sprechen von 50-100 Mio?"

Mit der Geschäftszahl 2020-0.471.585 erhält Kanzler Kurz dann ein Schreiben von Gesundheitsminister Anschober, in dem dieser darauf hinweist, er sehe sich "nicht in der Lage, zur Stunde während der laufenden Verhandlungen einerseits und der Unwägbarkeit verschiedener anderer Faktoren die Gesamtkosten genau zu beziffern. Ich gehe aber jedenfalls von einem Gesamtkostenrahmen von jenseits 100 Millionen Euro aus."

Am 29. Juli ist dann in einem Vortrag an den Ministerrat seitens des Gesundheitsministeriums plötzlich von einem Kostenrahmen "von bis zu 200 Millionen Euro" für die Beschaffung von Impfstoff für acht Millionen Menschen die Rede. Allerdings: Es gibt hier eine Urfassung des Vortrags des Gesundheitsministeriums vom 29. Juli, und die lautete: "Aufgrund der aktuell erst am Beginn stehenden Vertragsvereinbarungen und der Unabwägbarkeit verschiedener anderer Faktoren ist bei der angestrebten Impfung von 8 Millionen Menschen in Österreich jedenfalls von einem Gesamtkostenrahmen von 'mehr als' 200 Millionen Euro auszugehen." Dieses "mehr als" wurde in einer nebenstehenden Korrekturspalte vom Finanzministerium in roter Farbe auf "von bis zu" 200 Millionen Euro korrigiert.

"Mehr als" oder "circa" geht nicht

Im Büro von Minister Blümel erklärte man auf Anfrage zu den kursierenden Papieren schon am Mittwoch: Zwar stimme es, dass es zwei Versionen zur geplanten Impfkampagne gegeben habe – allerdings seien die ursprünglichen Finanzierungsangaben des Gesundheitsministeriums zu vage gewesen – "mehr als" oder "circa", also nach obenhin offene Bedeckungen, seien keine Budgetangaben, das gehe schon aus haushaltsrechtlichen Gründen nicht. Also habe man die vom Gesundheitsministerium genannten 200 Millionen Euro als Rahmen festgelegt. "Es hätte jederzeit die Möglichkeit gegeben, hier nachzujustieren, wir winken eh alles durch, wo Covid draufsteht." Man hätte auch 400 Millionen Euro gezahlt, wenn das verlangt worden wäre.

Opposition fordert Blümels Rücktritt

Doch SPÖ-Vizeklubchef Leichtfried forderte am Donnerstag prompt den Rücktritt von Blümel – durch die Korrespondenz vor den Ministerratsvorträgen vom 29. Juli, aber auch vom 15. September sei belegt, dass es für die Beamten nicht möglich war, ausreichend Impfstoff zu bestellen – und damit stehe die Gesundheit der Österreicher auf dem Spiel, weil Österreich so an rund sieben Millionen Dosen weniger kam. Die Regierung habe versucht, all das zu vertuschen. Für Leichtfried ist Blümel daher rücktrittsreif.

"Wenn er Anstand hätte, wäre er schon längst zurückgetreten", bekräftigte das auch Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker. FPÖ-Gesundheitssprecherin Dagmar Belakowitsch rechnete vor, dass die Koalition über 210 Millionen an PR-Budget verfüge – und für Impfstoff gäbe es dann zuerst einmal einen "unfassbaren" 200-Millionen-Euro-Deckel. Dazu habe man vom billigsten Impfstoff Astra Zeneca (der jedoch auch am einfachsten zu lagern ist, Anm.) am meisten bestellt, bei dem es nun Lieferschwierigkeiten gebe – hier wäre es stattdessen angebracht gewesen, von allen aussichtsreichen Impfstoffen gleich viel zu bestellen, um das Risiko, an zu wenig Dosen zu kommen, zu minimieren.

Koste es, was es wolle!

Das Finanzministerium reagierte umgehend auf die Pressekonferenz der Opposition: "Es war immer klar und es ist völlig klar: Es gibt kein Limit bei Impfungen!", hielt man in einem Statement fest, und: "Es gibt kein Limit, wenn es um die Gesundheit geht. Alles was gebraucht wird, wird zur Verfügung gestellt. Wer etwas Gegenteiliges behauptet, tut dies wider besseren Wissens! Wenn mehr Bedarf eingemeldet wird, dann wird auch mehr budgetiert."

Im Übrigen komme es im Zuge der Covid-Pandemie ständig zu Adaptierungen und Erhöhungen, wenn es zusätzlichen Budgetbedarf gibt: Zu Beginn der Pandemie am 14. März 2020 wurde etwa die Kurzarbeit mit 400 Millionen Euro dotiert, mittlerweile stehen für diesen Bereich 12 Milliarden Euro zur Verfügung.

Absurde Debatte für Kurz

"Habe das Finanzministerium nun einen Kostendeckel für die Impfstoffbestellung eingezogen?", wurde Kanzler Kurz am frühen Nachmittag vor dem anstehenden EU-Gipfel von Medienvertretern gefragt. Die Diskussion sei absurd, das Motto sei bekanntlich "Koste es, was es wolle", so Kurz. Das Gesundheitsministerium habe bisher nur 53 Millionen Euro abgerufen, heißt es aus dem Finanzministerium. Kurz dazu: Es hapere nicht an den Kosten, sondern an der Auslieferung. Froh sei er allerdings, dass das Gesundheitsministerium "den zuständigen Beamten, Clemens Martin Auer" hinausgeworfen" habe.

In Blümels Ressort pocht man zudem darauf, das Gesundheitsressort mehrmals aufgefordert zu haben, den tatsächlichen Impfstoff-Finanzbedarf für die Budgeterstellung 2021 zu beziffern. "Wir fragten, wieviel sie budgetiert brauchen und sie haben uns die Tabelle zurückgeschickt, wo bei Impfstoff für 2020: 80 Mio. und 2021: 120 Mio Bedarf angemeldet werden", wird im Büro des Finanzministers erklärt – auch diese Tabelle liegt dem STANDARD vor. Weder sei im Budget 2021 höherer Bedarf angemeldet, noch darauf hingewiesen worden, dass sich ein Mehrbedarf ergeben könnte.

Fakt ist: Erst am 9. Februar 2021 stellte Anschober im Ministerrat den Antrag den Rahmen für Impfungen auf 30,5 Millionen Dosen und 388,3 Millionen zu erhöhen. (Walter Müller, Nina Weißensteiner, 25.3.2021)