Charles Lloyd, Meister der subtilen Intensität.

Imago

Long life, still here, much seen …", schreibt Charles Lloyd poetisch versonnen im Begleittext zu seiner Neuheit Tone Poem, die kürzlich auf Blue Note erschien. Seine Worte klingen, als würde sich der Mann aus Memphis, Tennessee, Jahrgang 1938, selbst wundern, welche Fülle an musikalischen und zweifellos auch existenziellen Reisen er letztlich unbeschadet überstanden hat.

Wer in Lloyds Kunst Folgen eines abenteuerlichen Lebens sucht, findet im samtigen Ton jedenfalls die heitere Gelassenheit eines in sich ruhenden Musikers. Lloyd scheint Frieden geschlossen zu haben. Zwischendurch holt er zwar zu rasanten Verzierungen aus.

Meister des Wesentlichen

Es sind jene "Sheets of sounds", wilde Fahrten durch Arpeggi und Tonleitern, die einst bei John Coltrane erstmals auftauchten. Es sind bei Lloyd allerdings nur kurze, subtile Erinnerungsschlenker – vielleicht an Dramen und durchlebte Krisen.

Über allem schwebt jedoch der Eindruck, hier improvisiere ein Altmeister des Wesentlichen, einer, der Essenzielles zu sagen hat und deshalb nicht unentwegt reden, nicht exzessiv monologisieren muss. Wenn er zu freejazziger Emphase ansetzt, ist es vor allem eine fröhliche Hommage an den verstorbenen innovativen Kollegen Ornette Coleman (bei Ramblin’).

Instrumentaler Gesang

Typisch aber die sanften Nummern: Peace ist die Verwandlung des Stückinhalts in auratische Schwebestrukturen, die Gitarrist Bill Frisell harmonisch vergoldet. Prayer wiederum, Lloyds Ballade, wird zum Dokument eines instrumentalen Gesangs, der die Essenz von Lloyds Stil bündelt. Auch bei Monk’s Mood vermittelt sich das Charisma seines Spiels bereits durch den Sound eines einzigen melancholischen Tons. Eine Minimalgeste, die emotional Wesentliches enthält.

Bedenkt man Lloyds episch anmutende musikalische Reisen, hat sein Spiel einiges an stilistischen Facetten abgestreift. Ende der 1950er-Jahre spielte er in der Band von Bluesgitarrist B. B. King und bei Sänger Bobby "Blue" Bland.

Einst ein Star

In den 1960ern verbrachte er eine kurze Phase beim hardboppigen Altsaxofonisten Cannonball Adderley und dessen Sextett, um sich später eine interessante Band zuzulegen. In Lloyds Quartett werkten Exzentriker und Superegos wie Pianist Keith Jarrett und Drummer Jack DeJohnette. Sein Name fällt allerdings auch im Zusammenhang sogar mit den Doors, den Beach Boys und mit The Grateful Dead. "Er war damals so etwas wie ein Jazz-Rock-Star", erinnert sich auch Pianist Herbie Hancock. Lloyd "stand mit Rock-Bands auf der Bühne – und wurde akzeptiert."

Populär war Lloyd also und gefragt, offenbar aber auch gefährlich verbraucht: In den 1970ern zog er sich denn auch aus der Öffentlichkeit zurück und wurde in den Bergen von Big Sur an der Küste Kaliforniens sesshaft.

Die Notbremsung

Eine Art existenzielle Notbremsung war das. Rund zehn Jahre lang spielte Lloyd nur für die Wälder, die er durchstreifte, wenn er sich nicht der transzendentalen Meditation widmete.

"Ich war eine tickende Zeitbombe, dabei aber ausgebrannt. Ich hatte genug vom Musikbusiness, konsumierte allerlei Substanzen und war vom Leben desillusioniert. Es wurde nötig, intensiv an meinem Charakter zu arbeiten ... Der einzige Weg, den ich sah, bestand darin, mich komplett zurückzuziehen", erinnert sich Lloyd.

Sein kleiner Kollege

Dann kam allerdings das Jahr 1982 und mit ihm der junge französische Pianist Michel Petrucciani. Just ebendiesem munteren Vertreter des Jazz-Mainstreams gelang es, Lloyd aus dem Eremitendasein zu locken. Wer bei einem ihrer Konzerte zugegen war, hat es nicht vergessen. Mitunter trug Lloyd seinen kleinen Kollegen wie ein Baby in seinen Armen auf die Bühne – Petrucciani litt an der Glasknochenkrankheit. Die musikalische Partnerschaft endete 1999 mit Petruccianis Tod.

Lloyds Spiel durchweht hier vielleicht auch die Erinnerung an den Franzosen. Raum und Zeit sind auf Tone Poem reichlich vorhanden. Gitarrist Bill Frisell und Kollegen errichten inspirierende Klangräume, in denen Lloyd seine Spontaneität entfalten kann.

Auch im Sinne seines sympathisch pathetischen Anspruchs: "Jedes Mal, wenn ich die Möglichkeit habe zu spielen, ist es eine neue Chance, die Wahrheit zu sagen." Und eine Musik anzubieten, die dem Zeitgenossen in der Epoche des Lockdowns etwas Trost bietet.

(Ljubiša Tošic, 26.3.2021)