Zehntausend Füchse leben in Londons Gärten, Parks und Hinterhöfen. An einer Gartenfassade im Stadtteil Islington wohnt seit 2009 ein besonderes Exemplar: das Fell aus roten Fliesen, nach rechts schnauzig-spitz zulaufend, ein rundes Fenster als Auge, darunter eine breite Glasfront. Die Fassade eines kleinen Anbaus, der Architekt: David Kohn. Im Inneren geht es nicht nur fuchsrot zu: Wände in Schwefelgelb, Taubenblau und Türkis. Klingt nach too much, ist aber genau richtig.

"Der Fuchs weiß viele verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große", lautet ein Zitat des griechischen Schriftstellers Archilochos. Beides hat seine Berechtigung. Das Bohren in die Tiefe und das neugierige Herumstreunen. Fuchs und Igel nannte David Kohn auch die erste Ausstellung seiner Bauten, und seine Selbstzuordnung war eindeutig: Er ist ein Fuchs.

Farbe und Fun in London: Entwurf eines "Liberalen Archivs" von Adam Nathaniel Furman...
Foto: Adam Nathaniel Furman

Seitdem haben sich die Architekturfüchse in London vermehrt, und ihre jüngste Generation greift noch viel tiefer in den Farbtopf. Das 2013 von Catrina Stewart und Hugh McEwen gegründete Office S&M tauchte die Räume beim Umbau eines Nordlondoner Reihenhauses in Mintgrün, Altrosa und Petrolblau, sogar die Lichtschalter sind pink und gelb. "Wir benutzen Farbe bei allen unseren Projekten sehr intensiv", sagt Catrina Stewart. "Hier haben uns die Bauherren sogar noch weiter ermutigt. Die Farbe ist mehr als nur hübsche Ober fläche, denn sie kann dem Raum durch Schattierung größere Tiefe verleihen."

Disneyland und "Trainspotting"

Ein Konzentrat an Farben und Zitaten versammelt sich auch im Haus, das die Architekten des Büros CAN für ihre eigene Familie adaptierten. Hauchdünne Stahlträger in Blau, wild gemusterte Küchenschränke, als romantische Ruinen belassene Mauerreste, eine Pop-Art-Bergkulisse auf dem Vordach. Die Anregungen dazu holte man sich unter anderem aus Disneyland und dem Film Trainspotting. Und doch passt das alles zusammen und ist noch dazu sehr wohnlich. "Mich reizt es, möglichst unterschiedliche Ideen und Elemente zu kombinieren", sagt Mat Barnes von CAN – typisch Fuchs eben. "Außerdem waren wir schlicht gelangweilt von der 90er-Jahre-Ästhetik des grauen Mittelmaßes, in der Architektur immer nur Hintergrund ist. Warum darf Architektur nicht auch im Vordergrund stehen?"

...das Motel House von Office S&M...
Foto: French + Tye

Ist Architektur weniger ernsthaft, wenn sie Spaß macht? Nein. Darf man die Bretter eines Holzparketts in verschiedenen Farben anmalen? Ja. Genau dies tat jedenfalls das Londoner Kollektiv Almanac bei einem seiner Interieurs. Sollen die Material-Authentizität-Fetischisten doch vor Entsetzen erbleichen! Die neue Farbigkeit, so Matt Pattenden von Almanac, resultiere nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus rein ökonomischen Motiven wie den engen Budgets im teuren London. "Wir benutzen Farbe oft, um Räume kostengünstig aufzuheitern. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Buntheit in der bildgetriebenen Instagram-Ära auch einfach gutes Marketing ist."

Farbe, Formen, Zitate, Popkultur: Das hatte schon die Postmoderne der 1970er- und 1980er-Jahre im Arsenal. Sind die Londoner Füchse vielleicht einfach nur ein PoMo -Revival? Ein deutliches Nein ist die Antwort. "Wir übernehmen zwar Ideen aus der Postmoderne, sehen unsere Arbeit aber eher als Widerspiegelung einer Zeit des Übergangs", sagt Catrina Stewart.

Collagen und Zitate

Eine ähnliche Mischung aus Respekt und Distanz zur Postmoderne äußert auch David Kohn und ergänzt: "Es geht mir nicht nur um Farbe und Ornamente, sondern um eine Architektur der Reichhaltigkeit, die die vielen komplexen Dinge, die Menschen in Räumen tun, unterstützt."

Keine Neopostmoderne also. Sind die vielen gleichzeitigen Farbtupfer in Londoner Reihenhäusern nur ein glücklicher Zufall oder doch eine Art Trend? Der britische Architekturtheoretiker Owen Hopkins konstatiert einen solchen und erfand vor kurzem einen Namen für diese Bewegung: Multiform. "Denn diese Architektur kann buchstäblich viele Formen annehmen, sie verwendet aber immer Strategien wie Collage, Zitate und expressive Farben, Materialien und Ornamente. Es ist kein Postmoderne-Revival und auch keine Modeerscheinung. Es ist eine Art, mit dem ästhetischen und ideologischen Chaos der heutigen Welt umzugehen."

...und das Sanderson House von David Kohn Architects.
Foto: Jim Stephenson

Er ist nicht der Einzige, der sich an einer Definition versucht. Die zweite stammt vom Architekten Adam Nathaniel Furman und bezeichnet eine lose Gruppe Londoner Architekten, Designer und Grafiker, die noch viel tiefer und lustvoller in den Farbtopf greifen. Nicht selten sind sie selbst in papageienbunte Farben gekleidet, wie das schwedische Duo Lara Lesmes und Fredrik Hellberg von Space Popular, das schon 2018 in seiner Ausstellung in der Wiener Galerie Magazin eine Art Erlebnispark-Geisterbahn zwischen Zirkus, Robotik und Computerspiel aufbaute.

Bunt wie das Bauhaus

Auch Adam Nathaniel Furman verkörpert in Outfit und Werk eine Gesamtphilosophie der Farbe. Seine Interieurs, Installationen und freien Entwürfe sind eine wahre Explosion von Pastell, Pink und Gelb, er selbst lehrt an der Architectural Association über die Geschichte der Farbe in der Architektur. Ihm geht es nicht nur um den Spaß, sondern auch um Wiederentdeckung und Neubewertung eines oft als oberflächlich belächelten architektonischen Elements. "Vor allem weibliche und queere Designer haben immer wieder Farbe verwendet, aber diese Ideen wurden von den dominierenden Minimalisten als unseriös abgetan", sagt Furman.

Mustergültig: Die AXIS-Tonstudios im Londoner Stadtteil Bermondsey von Alma-nac Architects.
Foto: Jack Hobhouse

In der Tat wurde die Farbe immer wieder aus der Geschichte getilgt: Griechische Tempel und gotische Kathedralen waren ursprünglich ebenso bunt wie das Bauhaus, was von einflussreichen Selbstvermarkter-Architekten wie Philip Johnson und Walter Gropius erfolgreich unter den Tisch gekehrt wurde. Es ist nicht zuletzt ihre Schuld, dass heute triste weiße Vollwärmeschutz-Boxen als "Bauhaus-Stil" vermarktet werden.

Die stolz reklamierte Ästhetik der Buntheit ist nicht nur ein Querschuss gegen einen oft schlicht ideenlosen Minimalismus, sondern auch der trotzige Widerstand einer multikulturellen Metropole gegen ein Brexit-England, das sich in freudlosem Nationalismus abschottet. Wie immer man diese Generation nennt, sie zeigt die Möglichkeit einer besseren und bunteren Welt auf. (Maik Novotny, 28.03.2021)