Lebenskunst hat viele Facetten. Eine, womöglich gar die wichtigste, ist, sich nicht in sich selbst zu verfangen. Das darf auch als Aufforderung verstanden werden, die gewohnten und gepflegten Denk- und Sichtweisen unter die Lupe zu nehmen. Folge ich im Einordnen, Bewerten und Urteilen vielleicht längst verfestigten Routinen? Kommt das mental Innovative in meinem Leben zu meinem eigenen Schaden zu kurz? Schade ich damit nicht nur mir, sondern womöglich auch anderen?

Routine hilft und gibt Stabilität. Aber sie lähmt auch und macht Veränderungen bedrohlich.
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So entlastend, so hilfreich Handlungssicherheit, Stabilität und Vertrautheit schaffende Gewohnheiten und Routinen einerseits auch sind, so stellen sie andererseits aber auch ein beträchtliches Gefahrenpotenzial dar, werden sie zum Autopiloten im Leben. Im Umkehrschluss heißt das, alles, was die Selbstverständlichkeit zur Routine erstarrter Lebensvollzüge in jeder Hinsicht infrage stellt, stößt einen individuellen wie zwischenmenschlichen Belebungsprozess an. Wird die zur Routine gewordene Denke aufgebrochen, ist das enorm befreiend. Beispielsweise rufen dann Veränderungen nicht mehr automatisch Befürchtungen, Unsicherheit und Angst hervor, das Anderssein nicht mehr automatisch Ablehnung.

Sich diesbezüglich in die Pflicht zu nehmen, sich der Mühe zu unterziehen, die Verkrustungen im Kopf abzutragen, sich in der Weltbetrachtung und im Umgang mit der Welt selbstkritisch zu hinterfragen, das, sagt Jacqueline Koeppen, "ist ein Schritt zur Befreiung aus den Fesseln mentaler Selbstblockaden". Einer ihrer Ratschläge dazu ist, sich diese zehn Fragen zu stellen: Welche Bedeutung hat das Geschehen für mich? Wie reagiere ich darauf? Wie könnte ich noch reagieren? Was müsste ich denken, um so reagieren zu können? Was müsste ich denken, um der Sache eine andere Bedeutung zu geben? Was ist der positive Aspekt bei dem Problem / an der Situation? Was würde ich jemandem raten, der dieses Problem hat? Was kann ich für die Zukunft daraus lernen? Was kann ich genau jetzt tun, um meine Situation zu verbessern? Wer oder was kann mir helfen?

Aufmerksamkeit verabschiedet sich

Was meist nicht bedacht wird, ist, dass sich in den ganz selbstverständlich, sozusagen automatisiert ablaufenden Routinen die Aufmerksamkeit verabschiedet, sie schläft ein. Ohne sich dessen bewusst zu sein, liefert sich der "gewohnheitsmäßige" Mensch dieser Macht zunehmend mehr aus, beschränkt sich im Erleben und "steht sich dadurch selbst im Weg", sagt Koeppen.

Nicht die anderen, die Umstände, der Zeitgeist, nein, nicht diese üblichen Verdächtigen bremsen den selbstbestimmten, erlebnis intensiven, durch Erfahrungen bereicherten und erweiterten Lebensvollzug vor allem aus, das erledigen wir nur zu oft ganz allein. "Weil wir obenrum nicht frei sind", animiert Koeppen dazu, sich aus der mit der Zeit immer enger ziehenden Schlinge aller möglichen Routinen zu befreien. In dieser Doppelnatur von Nutzen und Schaden liegt die Gefahr der Routinen. Sich von denen nicht mehr und mehr und mehr entmündigen zu lassen, verlangt, sich diese allenthalben wirkenden Gewohnheitsmuster wieder bewusst machen. Hilfreich dabei: Selbstaufmerksamkeit.

Und um diese Aufmerksamkeit geht es Jacqueline Koeppen. Die Idee dahinter: Routinen aus dem unbewussten zurück in den bewussten Lebensvollzug zu holen, sich selbst für all das zu sensibilisieren, was über Denk- und Handlungsblockaden schließlich in die Selbstblockade führt. Über das urpersönlich wie zwischenmenschlich Befreiende dieser Möglichkeit hinaus eröffnet Koeppen damit auch eine Tür, um im Wandel wandlungsfähig zu bleiben. (Hartmut Volk, 1.4.2021)