Kinopause: Nicht nur auf das Wiener Votiv wartet eine veränderte Vertriebslandschaft.

Foto: D. Kamalzadeh

Zu den Ritualen des Aufschubs während der Pandemie gehören nicht nur die Politikerappelle, wieder einmal vor ganz entscheidenden Wochen zu stehen, sondern auch die regelmäßigen Verschiebungen größerer Filmstarts. Diese Woche gab Disney bekannt, den Marvel-Blockbuster Black Widow mit Scarlett Johansson erst am 9. Juli herauszubringen, zeitgleich in Kinos und auf der hauseigenen Plattform Disney+. Vor einem Jahr hätte diese Entscheidung für ein hybrides Modell in der Branche noch Wirbel verursacht, nun blieb es merkwürdig still.

Sind wir bereits in jener Zukunft angekommen, in der die gültigen Verwertungsfenster, die eine bis zu 90-tägige Zeitspanne zwischen Kino- und Onlinestart vorsahen, aufgehoben sind? Dies ist nur eine der zentralen Fragen des seit Corona wild durchgerüttelten Filmmarkts. Wenn die Kinos wieder richtig öffnen – in den USA ist dies bereits mit beschränkten Sitzkapazitäten der Fall –, drohen sie ihre Exklusivität in der Auswertung einzubüßen, was eine Neuausrichtung in der Verwertungslogik unumgänglich macht.

Andererseits bleibt völlig unklar, ob das Publikum bereit ist, zusätzlich zu Streamingabos happige 30 Dollar auszugeben, um Filme wie Black Widow im Wohnzimmer zu sehen. Wie sich der Markt in Zukunft entwickelt, wagt selbst ein US-Box-Office-Experte wie Tom Brueggeman nicht vorauszusagen. "Jeder, der sagt, was genau passieren wird, folgt entweder einem bestimmten Interesse oder ist naiv", sagte er unlängst der Website Indiewire. Klar sei nur, dass das Distributionsgeschäft vorangeschritten ist, während die Multiplexe stillstanden. Wenn die Kinos aus ihrem Schlaf erwachen, sehen sie sich also einer anderen Wirklichkeit gegenüber.

Vertikale Integration

Ein Begriff der Stunde heißt "vertikale Integration". Gemeint ist damit, dass Studios (und Streaming-Unternehmen) Produktion und Distribution unter einem Dach zusammenführen. Was im klassischen Hollywoodkino nur bis 1948 möglich war – dann wurde es aus kartellrechtlichen Gründen untersagt –, ist im digitalen Bereich längst Realität. Fast jedes Studio trachtet danach, wie Netflix und Amazon seine Filme auf eigenen Plattformen zu verwerten. Für große Kinoketten wie AMC oder Regal keine einfache Situation.

Der deutsche Medienwissenschafter Jan Distelmeyer, Autor des Buches Kritik der Digitalität, betrachtet die "Verplattformung" der Distribution im STANDARD-Gespräch als logischen Schritt der Entertainmentriesen: "Es geht um möglichst viel Einfluss darauf, wie die Produkte präsentiert werden. Wertschöpfung bedeutet an dieser Stelle ja nicht nur, einen Film zu den Personen zu bringen, sondern auch etwas von diesen Personen zu erfahren. Das ist der noch wichtigere Stream." Allerdings zweifelt er daran, dass sich der Algorithmus als die erhoffte "Killer-App der Digitalität" erweist, die Studios über Benutzerprofile gleichsam den Weg zum designten Welterfolg vorgibt: "Da säße man dem Mythos der Digitalisierung auf. Der Algorithmus ist keine Wunderwaffe der Rationalität. "

Mehrere Studio-Interessen

Deshalb ist Distelmeyer davon überzeugt, dass Kinos als Businessmodell keineswegs vorschnell abgeschrieben werden sollten. Gerade angesichts der auf Abos ausgerichteten Plattformen ließe sich von den Studios über die große Leinwand ein Massenpublikum erreichen, das in andere Bereiche abstrahlt. "Es gibt gleichsam zwei unterschiedliche Interessen, die sich innerhalb der gleichen Institution gegenüberstehen."

Auch der kulturelle Status wird die Zukunft mitentscheiden. Für eine jüngere Generation verfügt das Kino vielleicht nicht mehr über dasselbe Versprechen, doch es ermöglicht eine Gemeinschaftserfahrung, die wir zu Pandemiezeiten umso schmerzlicher vermissen. Deswegen wünscht sich Distelmeyer auch ein Kino, das auf die soziale Komponente setzt: "Wenn sich wieder die Erfahrung einstellt, dass ich Filme im Kino anders, intensiver erfahre, weil andere dabei sind, dann könnte man auch sagen: Gesellschaft ist eine gute Sache. Sie macht die Filme besser."

Nicht nur exklusive Abspielstätte

Dies ist auch ein Grund, der die deutsche Vertriebs- und Produktionsfirma DCM zu einem ungewöhnlichen, dem Alarmismus gegenläufigen Schritt bewogen hat: Sie hat die Schweizer Kinokette Arthouse Commercio Movie AG übernommen. "Man hat den Übergang zu einer neuen Generation gesucht. Wir sind trotz Corona nicht davor zurückgeschreckt, weil wir ganz stark ans Kino glauben", sagt Dario Suter, einer der vier Geschäftsführer, der die Kinos in Zürich aus seiner Jugend in bester Erinnerung hat.

Auf welche Weise muss man das Kinoerlebnis an neue Gegebenheiten anpassen? "Man darf sich nicht mehr darauf ausruhen, dass es eine exklusive Abspielstätte ist", ist Suter überzeugt. "Die Auswertungsstrategie ist von Film zu Film unterschiedlich zu beurteilen – und ich weiß, traditionelle Kinobetreiber springen mir an den Hals, wenn sie das hören." Außerdem müsse man mit dem analogen Publikum verstärkt in Dialog treten, wie man es digital schon tut: "Das Kino soll uns dabei helfen, es endlich besser zu verstehen."

Nur so könnte Kino in einer Welt mit digitalem Überangebot an Filmen Orientierung bieten. "Es ist zu einer anonymen Abspielstätte geworden. Doch es kann eine Vertrauensinstanz sein, die den Besuchern sagt: Hier gibt es etwas für dich, dass dir guttut." Vielleicht liegt eine Zukunft des Kinos tatsächlich in der Entschleunigung, als Oase mit Wellnessfaktor. "Es schützt uns ja auch", sagt Suter, "abgesehen vom Yogaraum oder dem Schlafzimmer ist es der einzige Ort, an dem ich mein verdammtes Handy ausschalte." (Dominik Kamalzadeh, 27.3.2021)