Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmen dieser Tage nicht nur unsere Arbeitswelt, sondern auch unseren Alltag. Sie haben Einzug bis in den letzten Winkel unseres Lebens gehalten.
Wenig verwunderlich schlägt sich die immer weiter voranschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft auch in der – für uns natürlich insbesondere interessant: geisteswissenschaftlichen – Forschung nieder.

Selbstverständlich verwenden wir Möglichkeiten der digitalen Kommunikation – wie diesen Blog – für die Verbreitung unserer Forschungsergebnisse, doch das ist eigentlich nur das letzte Glied in einer Kette an Arbeitsschritten: Wir schaffen Forschungsdaten, stellen sie offen und FAIR (Findable, Accessible, Interoperable and Re-usable) für Kolleginnen und Kollegen zur Nachnutzung zur Verfügung, entwickeln digitale Forschungs- und Analysemethoden. Diese machen es möglich, dass wir Forschungsfragen beantworten können, die uns ohne Zugang zu digitalen Quellen oder die Anwendung digitaler Methoden nicht nur nicht beantwortbar, sondern nicht einmal bewusst geworden wären.

#digitalDHaustria

Auch in Österreich hat die Digitalisierung längst Einzug in die geisteswissenschaftliche Forschung gehalten. Immer mehr Institutionen widmen dem Bereich der "Digital Humanities" (DH) Lehrveranstaltungen, Studienrichtungen und Professuren. Nationale und internationale Fördergeber erkennen nicht nur das Potenzial der Digitalisierung für die Forschung, sondern vor allem für ihre öffentliche Vermittlung. Eine beispielhafte Initiative, die den Fokus nicht auf einzelne Institutionen und Förderprogramme legt, sondern versucht, der Öffentlichkeit und der geisteswissenschaftlichen Fachgemeinschaft einen möglichst umfassenden Blick auf die derzeit in Österreich laufenden Forschungsvorhaben der digitalen Geisteswissenschaften zu ermöglichen, ist die virtuelle #digitalDHaustria-Konferenz.  

Zunächst wurden an die 100 österreichische Digital Humanities Projekte gesammelt und so ein Einstiegspunkt für interessierte Besucherinnen und Besucher geschaffen. Um eine größere Breitenwirkung zu erzielen und sowohl die Öffentlichkeit als auch die internationale Fachgemeinschaft zu erreichen, werden diese Projekte von 14. bis 16. April im Rahmen eines Twitter-Schaukastens vorgestellt und vermittelt. Die thematische Ausrichtung reicht dabei von 3D-Rekonstruktionen arabischer Inschriftenabdrucke (Glaser Squeezes) über mittelalterliche Kochrezepte (CoReMA) bis hin zum Wiener Videorekorder. 

Österreichische Digital-Humanities-Projekte.
ACDH-CH, ÖAW

Die österreichische Digital-Humanities-Landschaft

Einen zentralen Informations- und Einstiegspunkt für alle österreichischen Aktivitäten im Bereich der Digital Humanities bietet die Website digital-humanities.at. Diese wird vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betrieben, ebenso wie die Mailingliste der Digital Humanities Austria. Beide Ressourcen erfüllen eine wichtige Funktion in der Vernetzung und Kommunikation der Forscherinnen und Forscher, die sich in Österreich mit diesem Fachbereich identifizieren.   

Über das informelle Netzwerk der Digital Humanities Austria hinaus, gibt es jedoch auch eine formalisierte Gruppe, die das Thema der digitalen Geisteswissenschaften in Österreich seit vielen Jahren aktiv gestaltet und inhaltlich sowie strategisch und politisch weiterentwickelt: Das CLARIAH-AT-Konsortium versammelt nicht nur jene österreichische Institutionen, die über einschlägige Expertise in der Forschung, Entwicklung und Lehre im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften sowie im Aufbau und nachhaltigen Betrieb von Forschungs(daten)infrastrukturen verfügen, sondern auch solche, die eine aktive Rolle in der österreichweiten Etablierung und Weiterentwicklung der digitalen Geisteswissenschaften einnehmen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind das die Universitäten Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Krems, Salzburg und Wien sowie die Österreichische Akademie der Wissenschaften und die Österreichische Nationalbibliothek.

Dieses nationale Konsortium wurde 2020 im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMWF) im Kontext zweier europäischer Konsortien geschaffen, die im Rahmen des ESFRI (European Strategy Forum on Research Infrastructures) Prozesses etabliert wurden: CLARIN (European Research Infrastructure for Language Resources and Technology) und DARIAH (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities). Während CLARIN digitale Sprachressourcen verfügbar macht und langfristige Lösungen und Technologiedienstleistungen im Zusammenhang mit Sprachforschung entwickelt, zielt DARIAH darauf ab, digital gestützte Forschung und Lehre durch ein Netzwerk von Menschen, Expertisen, Wissen, Inhalten, Methoden, Werkzeugen und Technologien zu fördern.

Das CLARIAH-AT-Konsortium verfolgt dieselben Ziele auf österreichischer Ebene und erbringt jene nationalen Leistungen, die in die gesamteuropäischen Forschungsinfrastrukturen einfließen. Es fördert Forschungsvorhaben und Veranstaltungen (auch von außerhalb des Konsortiums) und bemüht sich um eine größere Sichtbarkeit der international oft besser als national wahrgenommenen DH-Aktivitäten, zum Beispiel durch den bereits erwähnten #digitalDHaustria-Twitter-Schaukasten.

Eine Strategie für Digital Humanities in Österreich

Bereits 2015 wurde von einer Gruppe von Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland ein Strategiepapier zur Weiterentwicklung der digitalen Geisteswissenschaften in Österreich vorgelegt.
Seitdem ist viel passiert: An den Universitäten Graz und Wien wurden Professuren für Digital Humanities geschaffen und Masterstudien eingerichtet. An anderen Universitäten (Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt, Krems) entwickelten sich Forschungsnetzwerke und Kompetenzzentren. Mehrere Millionen an Fördergeldern flossen in Digital-Humanities-Projekte wie das "Kompetenznetzwerk Digitale Edition" und das kürzlich angelaufene Projekt "Digitale Transformation der österreichischen Geisteswissenschaften". Deren Ziele waren und sind langfristige und nachhaltige Kooperationen zwischen österreichischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Einen Überblick über die Entwicklungen im Bereich der Digital Humanities gibt die von Katja Mayer erstellte Bestandsaufnahme "Digital Humanities in Österreich" aus dem Jahr 2019.

Höchste Zeit also, neue Visionen und neue Ziele zu entwickeln: Im Februar 2021 legte das CLARIAH-AT-Konsortium einen ersten Entwurf einer neuen Digital Humanities Austria Strategie 2021+ vor. Dieses neue Strategiepapier wurde über die facheinschlägigen Mailinglisten verteilt und die Fachgemeinschaft zu Ergänzungen, Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen eingeladen. Die zahlreichen Rückmeldungen wurden gesammelt und fließen in die derzeit laufende redaktionelle Überarbeitung der Strategie ein, die im 2. Quartal 2021 vorgelegt werden wird. Dabei bleibt zu betonen, dass die Autorinnen und Autoren das Papier als "lebendes Dokument" verstehen, das in regelmässigen Abständen Anpassungen und Ergänzungen erfahren wird.

Vier Leitlinien

Die Strategie definiert vier Leitlinien, denen jeweils eine gleichnamige Arbeitsgruppe zugeordnet wird, die konkrete Vorhaben entwickelt und umsetzt. Auch Expertinnen und Experten außerhalb der Mitglieder des Konsortiums werden aktiv in diesen Arbeitsgruppen mitwirken und somit sicherstellen, dass die Anliegen der Fachgemeinschaft über institutionelle Grenzen hinweg Gehör finden. 

Zahlreiche Digital-Humanities-Projekte sind für die Zukunft geplant.
Foto: Getty Images/alengo

Leitlinie 1: Forschungsinfrastrukturen und -netzwerke

Die österreichische Beteiligung – und Reputation – in den europäischen Forschungsnetzwerken im Bereich der Digital Humanities ist beachtlich. Auch im Bereich des Digitalen Kulturerbes nimmt Österreich eine führende Rolle ein, wie zum Beispiel in der Time-Machine-Organisation. Der weitere Ausbau dieses internationalen Engagements erfordert zunächst jedoch eine noch stärkere nationale Vernetzung, nicht nur zwischen den derzeit noch nicht im CLARIAH-AT-Konsortium vertretenen Hochschulen und Forschungsinstitutionen, sondern auch mit Netzwerken und Gruppen aus den Bereichen des Forschungsdatenmanagements anderer Disziplinen. 

Eine besondere Bedeutung wird hier eine engere Zusammenarbeit mit Gedächtnisinstitutionen, also Bibliotheken, Archiven und Museen spielen, an denen sich öffentliches und wissenschaftliches Interesse ständig begegnen.

Politik und Förderinstitutionen zu einem stärkeren Engagement in diesem Bereich zu bewegen wird unerlässlich sein. Als richtungsweisendes Beispiel für die nationale Unterstützung solcher Forschungsinfrastrukturen kann auf die Initiative Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) in Deutschland verwiesen werden. Solange bei Politik und Förderinstitutionen, aber auch an den Hochschulen und Forschungsinstitutionen selbst nicht das Bewusstsein herrscht, dass auch in den Geisteswissenschaften technische Infrastrukturen und Expertisen die Basis für innovative – und die stets geforderte "exzellente" – Forschung darstellen, läuft man Gefahr, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sowohl über informationstechnische als auch geisteswissenschaftlich und fachdisziplinäre Expertise verfügen, zu verlieren und damit langjährige Aufbauarbeit zunichte zu machen. Die gerade verabschiedete Novelle des Universitätsgesetzes verschärft diese Situation – unabhängig von der disziplinären Ausrichtung der Betroffenen – durch die zwar gut gemeinte aber leider völlig realitätsferne Änderung im Bereich der Kettenverträge.    

Leitlinie 2: Forschungsdaten und Repositorien

Ein Verbund der österreichischen Datenrepositorien, der gemeinsame Standards und Richtlinien für die nachhaltige Archivierung, Kuratierung und Verfügbarkeit von Forschungsdaten festlegt, ist ein erster Schritt für eine Harmonisierung des Forschungsdatenmanagements. Neben der Schaffung und Sicherung von Wissen ist insbesondere die Auffindbarkeit und Sichtbarkeit wissenschaftlicher Daten von zentraler Bedeutung. Aber das wird nur durch gemeinsame Findmittel und Plattformen möglich. Ein offener Zugang zu Datenquellen (Open Science), der eine breite wissenschaftliche Nachnutzung erlaubt, ist in den digitalen Geisteswissenschaften, weit verbreitet: Umso größere Bedeutung haben hier Standards und Dokumentationen.


Leitlinie 3: Methoden und Tools

Qualitätsvolle Forschungsdaten regen Forscherinnen und Forscher zu innovativen Fragestellungen an. Um diese jedoch beantworten zu können, bedarf es häufig ebenso innovativer digitaler Forschungs- und Analysemethoden. Auch die in diesem Kontext entwickelten Softwarewerkzeuge müssen möglichst offen zugänglich sein. Es ist ein häufiges Phänomen, dass in unterschiedlichen Projekten parallel ähnliche Werkzeuge und Verfahren entwickelt werden. Auch hier tut mehr Kommunikation über laufende Entwicklungen und die Auffindbarkeit bereits bestehender Lösungen Not. Eine Bündelung der über mehrere Standorte in Österreich verteilten Kompetenzen im Bereich der forschungsgetriebenen und -unterstützenden Softwareentwicklung vermag viel mehr zu leisten als individuelle "Insellösungen". Hier gilt es aber auch, Geschäftsmodelle für Kooperationen mit der Wirtschaft zu entwickeln, die in den Geisteswissenschaften bislang noch unüblich sind.   

Leitlinie 4: Ausbildung, Training, Knowledge Sharing

An unterschiedlichen Standorten in Österreich gibt es international anerkannte Expertise in bestimmten Bereichen der Digital Humanities. Diese Expertise wird jedoch nur an wenigen Standorten auch in Form von Studienangeboten an den wissenschaftlichen Nachwuchs vermittelt. Die eingangs erwähnten erfolgreichen Beispiele aus Graz und Wien können dafür als Schablone dienen.

Auch der Wissenstransfer zwischen den Standorten sollte intensiviert werden. Möglich wird das durch die Organisation von fachspezifischen Workshops und Weiterbildungsveranstaltungen, aber auch durch den Aufbau von themen- oder methodenbezogenen Beratungsstellen für Kolleginnen und Kollegen auch außerhalb der jeweiligen Institutionen.

Hand in Hand

Die digitale Transformation der Gesellschaft und der Geisteswissenschaften gehen Hand in Hand. Forschende wie Studierende aus ganz Österreich gestalten diesen Wandel aktiv mit und gehen innovative Wege. Der gerade in den Geisteswissenschaften oft zitierte "Elfenbeinturm" weicht dem Datenstrom: Digitale Methoden erschließen neues Wissen, offen verfügbare digitale Quellen vermitteln dieses Wissen der Öffentlichkeit und regen die Fachgemeinschaft zu wieder neuen Forschungsfragen an.

Die zweifellos zahlreichen Herausforderungen dieser Digitalisierung der (Geistes-)Wissenschaft werden nur von ihren Möglichkeiten übertroffen: Die Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaftspolitik und der digitalen Geisteswissenschaften sind gleichermaßen gefordert um diese auszuschöpfen. (Walter Scholger, 7.4.2021)

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