Dass Israel eine Hightech-Großmacht ist, bewies das kleine Land mit der weltbesten, weil schnellsten Organisation der Impfung der Bevölkerung während der Pandemie. Auch wenn man internationale Statistiken vergleicht, scheint Israel meistens unter den fünfzehn Top-Ländern auf. Militärisch und wirtschaftlich sehr stark, gilt Israel als "eine der dramatischsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts", so Tom Segev, der herausragende israelische Historiker, erst recht, wenn man sich erinnere, dass es vor noch nicht so langer Zeit bei null angefangen habe. Obwohl die meisten der 1967 eroberten Gebiete nicht zurückgegeben wurden und statt der 1993 im Osloer Abkommen vorgesehenen Zwei-Staaten-Lösung bereits über eine halbe Million jüdische Siedler im Westjordanland wohnen, konnte im vergangenen Jahr eine Normalisierung der Beziehungen zu vier arabischen Staaten eingeleitet werden.

Benjamin Netanjahu mit insgesamt 15 Regierungsjahren der längstdienende Premier in der israelischen Geschichte.
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Vor diesem Hintergrund erscheint das, was in Israel gerade vor sich geht, fast wie eine Tragikomödie. Vor einer Woche waren die Israelis zum vierten Mal in zwei Jahren dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen, und wieder gab es keine klare Mehrheit: weder für das rechte Bündnis des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu noch für die heterogene Opposition, die von links bis extrem rechts reicht.

Netanjahu (71) an der Spitze seiner rechtskonservativen Likud-Partei ist mit insgesamt 15 Regierungsjahren der längstdienende Premier in der israelischen Geschichte. Zweifellos ein politischer Überlebenskünstler, der sich als internationaler Staatsmann und auch deshalb als die einzige Option für das Amt des Ministerpräsidenten präsentiert. Er spiegelt und verstärkt zugleich die Tendenz eines historischen Rechtsrucks.

Politikverdrossenheit

Netanjahu geht aber vor allem in die Geschichte ein als erster amtierender Regierungschef, der wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit seit über einem Jahr angeklagt ist und vor Gericht steht. Am 5. April wird der Prozess fortgesetzt. Netanjahu bestreitet die Vorwürfe als "den Versuch, einen starken Ministerpräsidenten der Rechten zu stürzen". Bei der von Politikverdrossenheit geprägten Wahl schien es fast ausschließlich nur noch um die Frage zu gehen: Bist du für oder gegen Netanjahu?

Trotz der fehlenden Mehrheit und seines Korruptionsprozesses beschäftigt sich Netanjahu mit keinen Rücktrittsgedanken, sondern rief bereits in der Wahlnacht zur Bildung einer stabilen Regierung auf. Da es für ihn um Kopf und Kragen geht, ist er bereit, den potenziellen Koalitionspartnern alles Mögliche zu versprechen. Mit dem wahrscheinlichen Eintritt der ultrarechten Siedlungspartei in eine neue Netanjahu-Regierung würde wohl das rechteste Kabinett seit der Gründung des Judenstaates mit gravierenden Folgen für die Friedensgespräche mit den Palästinensern entstehen.

Es geht um nichts weniger als um jenes Merkmal, womit sich Israel gern rühmt: die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Oder soll man in einer Pattsituation das Volk immer wieder wählen lassen? Auch eine fünfte Neuwahl würde das Vertrauen in die Demokratie weiter untergraben und die Extremisten stärken. (Paul Lendvai, 29.3.2021)