Eine Meldung, die verstört: Seit Viktor Orbáns Fidesz die Europäische Volkspartei (EVP) verlassen hat, liegt die extreme Rechte im Europäischen Parlament auf Platz zwei, vor den Sozialdemokraten. In ganz Europa sind die Rechten auf dem Vormarsch, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf der Straße. Die außerparlamentarische Opposition, lange Zeit von der Linken dominiert, steht jetzt – nicht zuletzt dank Corona – rechts außen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten wir uns an ein komfortables Gleichgewicht der zwei großen politischen Familien gewöhnt, Mitte-rechts und Mitte-links, Christdemokraten und Sozialdemokraten. Sie bestimmten die Agenda. Dazwischen ein paar Liberale und an den Rändern Kommunisten und Nationalisten.

Der Wiener Rathausplatz am 1. Mai 2020.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Diese Ära scheint vorbei zu sein. Einer der Hauptgründe dafür: die Krise der Sozialdemokratie.

Der österreichische Politikwissenschafter Anton Pelinka hat dazu jüngst eine Streitschrift veröffentlicht, die den Titel trägt Sozialdemokratie – ab ins Museum?. Pelinka ist kein Sozialdemokrat, aber er hat viele sozialdemokratische Freunde, die er schätzt und respektiert. Seinen Essay nennt er "eine Gratwanderung zwischen verschämter Liebeserklärung und kaum verborgener Kampfansage".

Gesellschaftliche Mitte

Das Problem liegt laut Pelinka – und nicht nur laut diesem – darin, dass viele heute nicht mehr recht wissen, wofür diese Partei eigentlich steht. Das revolutionäre Rot hat musealen Charakter, stattdessen herrscht ein unbestimmter Grauton vor. In ihren großen Zeiten, bestimmt von Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky, Willy Brandt und Olof Palme, konnten die Sozialdemokraten Mehrheiten erreichen, weil sie auch für die gesellschaftliche Mitte attraktiv waren. Aber wo ist diese Mitte heute?

Der zentrale sozialdemokratische Wert – die Solidarität – wird hier verschieden interpretiert. Gilt er nur für "unsere Leut"? Oder für alle? Die dänischen Sozialdemokraten etwa, die derzeit die Regierungschefin stellen, haben ein besonders restriktives Asylgesetz. In der preisgekrönten dänischen Fernsehserie Borgen wird die dortige "Arbeiterpartei" denn auch als populistisch und korrupt dargestellt. Arbeiterbewegung? Weder Arbeiter noch Bewegung, sagt dazu ein Protagonist.

Und auch anderswo scheiden sich an der Flüchtlingsfrage die Geister, denn es ist unstrittig, dass die Stammklientel der Sozialdemokraten, die sozial Schwachen, von der Konkurrenz der Migranten stärker betroffen ist als andere. Aber Solidarität, die an den Landesgrenzen haltmacht, ist keine.

In Österreich hat insbesondere die stärkste sozialdemokratische Bastion, das rote Wien, die Gratwanderung zwischen Prinzipientreue und Pragmatismus nicht schlecht geschafft. Aber um im 21. Jahrhundert überleben zu können, braucht die Sozialdemokratie immer neue Strategien, um ihre wichtigsten Werte – Solidarität und Demokratie – umzusetzen.

Für den souveränen Nationalstaat ist der Platz im Muse-um laut Pelinka schon reserviert. Will die Sozialdemokratie dieses Schicksal nicht teilen, muss sie sich transnational aufstellen. Pelinka sagt es so: Die Sozialdemokratie wird europäisch sein – oder sie wird nicht mehr sein. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 1.4.2021)