Am Mittwochabend kündigte Präsident Emmanuel Macron im Fernsehen neue einschneidende Maßnahmen an.

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"Die dritte Welle ist da, und sie trifft uns hart", erklärte Premierminister Jean Castex am Donnerstagmorgen vor der Nationalversammlung. Er bat das Parlament, die Maßnahmen abzusegnen, die Emmanuel Macron am Vorabend angekündigt hatte. Mehrere Oppositionsparteien verweigerten die Teilnahme an der Abstimmung, da sie nicht ganz zu Unrecht einwenden, das Parlament könne ohnehin nur abnicken, was der Präsident im Fernsehen vor 31 Millionen Zuschauern – fast der Hälfte der Bevölkerung – angekündigt habe.

Macron hat sich auf Rat seiner Berater dazu durchgerungen, Kinderkrippen, Grund- und Mittelschulen ab Montag für mindestens drei Wochen zu schließen. Zwei Wochen entfallen auf die Frühlingsferien, die um eine Woche vorgezogen werden. Vor allem an den Mittelschulen dürften die Klassen auch nach dem 26. April wie heute schon halbiert werden. Die Studenten arbeiten wie bislang während vier von fünf Studientagen im Homeoffice.

Psychologisch einschneidend

Für Frankreich ist die Schulschließung auch psychologisch sehr einschneidend. Macron hatte sich seit Jänner damit gebrüstet, dass sein Land um einen solchen Schritt herumkomme; das nütze indirekt auch der Wirtschaft, da die Eltern ihre Schützlinge so nicht selber betreuen müssten.

Jetzt erklärte der Präsident, alle Französinnen und Franzosen müssten im Homeoffice arbeiten, wenn sie dazu in der Lage seien. Geschäfte ohne unentbehrliche Produkte müssen landesweit dichtmachen. Das gilt auch, soweit noch nicht geschehen, für Restaurants, Kultur- und Sportstätten. Bewegungsfreiheit gibt es nur noch in einem Umkreis von zehn Kilometern; darüber hinaus ist eine Bescheinigung mit der Angabe "zwingender Gründe" erforderlich.

Kein Karneval mehr

Die Regierung verschärft auch ihren Tonfall. Bisher hatte sie Massentreffen wie jüngst den von 6.000 Jugendlichen besuchten Karneval in Marseille mehr oder weniger toleriert. Jetzt gab Castex bekannt, dass Zusammenkünfte auf Plätzen oder etwa an den Seine-Quais in Paris systematisch aufgelöst würden. Auch der Alkoholkonsum sei im öffentlichen Raum nicht mehr zugelassen.

Die Maßnahmen, deren Kosten für den Staat auf elf Milliarden Euro geschätzt werden, treten an Ostermontag auf dem gesamten Festland Frankreichs in Kraft. Bis dahin galten erst in 19 bevölkerungsreichen Departements im Landesnorden, dem Großraum Paris und bei Nizza eine nächtliche Ausgangssperre sowie der Zehn-Kilometer-Radius.

Vor allem im dichtbewohnten Paris und seinen Vororten steigen die Ansteckungszahlen dramatisch. Täglich kommen rund 40.000 neue Fälle dazu, und die Intensivstationen stoßen an ihre Grenzen. Ein Ärztekollektiv kündigte bereits an, eine Triage zwischen zu rettenden und todgeweihten Patienten werde im Verlauf dieses Monats unvermeidlich. Gesundheitsminister Oliver Veran schätzte am Donnerstag, der Höhepunkt der Ansteckungen werde in einer Woche und die Zahl der Spitalseinweisungen Ende April erreicht sein. Macron verspricht eine Besserung für "Mitte Mai".

Lockdown oder kein Lockdown

Für die Pariser Medien ist klar, dass sich Frankreich in einem dritten "confinement" (Lockdown) befindet. Macron vermeidet dieses Wort, da es auch eine politische Niederlage für ihn selber bedeutet. Noch im Jänner hatte sich der Präsident über die Lockdown-Empfehlung seines Wissenschaftsrates hinweggesetzt. Seine Berater posaunten damals herum, der Präsident habe sich nun genügend in die Pandemie-Problematik eingelesen, um selber entscheiden zu können, was die Nation brauche.

Am Donnerstagmorgen machte Premier Castex klar, dass seine Regierung wieder auf den Rat der Mediziner hören will: "Es gibt keinen Gegensatz zwischen den Ansichten der Politik und der Ärzteschaft."

In der Parlamentsdebatte musste die Staatsführung aber harte Kritik einstecken. "Unser Land ist darauf reduziert, sich den Erlassen eines Herrschers zu unterwerfen, den nichts bremst – nicht einmal seine eigenen Fehler", erklärte der kommunistische Abgeordnete André Chassaigne. In der Frage der Massenimpfung habe Macron hingegen "zugewartet, statt zu antizipieren".

Zwischen Eigenlob und Selbstkritik

Die geballte Kritik zeugt auch vom Anstieg der politischen Spannung in Frankreich ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Nach dem Schuldbekenntnis der deutschen Kanzlerin Angela Merkel schwankt Macron auf wenig einsichtige Weise zwischen Eigenlob und Selbstkritik.

Zugleich muss er sich bemühen, den Frust und die Erschöpfung seiner Landsleute zu begrenzen, um weitere Akte der Disziplinlosigkeit oder sozialer Proteste zu vermeiden. Auch deshalb erklärte er am Mittwochabend, sämtliche Sozialhilfen blieben in Kraft, und die Kurzarbeit werde weiterhin zu 100 Prozent vom Staat übernommen. Macron hat allerdings gar keine Wahl, solange in Frankreich jeden Tag an die 300 Menschen am Virus sterben, sodass bald die Schwellen von 100.000 Covid-Toten erreicht sein wird. (Stefan Brändle aus Paris, 1.4.2021)