Warum gibt es etwas, und nicht vielmehr nichts? Oder anders gefragt: Warum dominiert ausgerechnet die Materie in unserem Universum, wo sich doch eigentlich Materie und Antimaterie kurz nach dem Urknall hätten auslöschen müssen? Das rätselhafte Materie-Antimaterie-Ungleichgewicht beschäftigt Forscher seit langem. Das Standardmodell der Teilchenphysik liefert keine Erklärung für die Verletzung dieser sogenannten CP-Symmetrie. Mit einem Durchbruch am Europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf ist es nun möglich, Antimaterie mit nie dagewesener Präzision zu vermessen.

Vor und nach der Kühlung: In Grau sind die Bewegungsspuren der Antiatome vor der Laserkühlung zu sehen, in Weiß jene der gekühlten Antiatome.
Illustration: Chukman So/TRIUMF

Wie Wissenschafter des am Cern ansässigen Alpha-Experiments in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals "Nature" bekanntgeben, ist es ihnen erstmals gelungen, Anti-Wasserstoff mit Laserlicht abzubremsen und damit beinahe auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt abzukühlen. Es war "das mit Abstand schwierigste Experiment, das wir je durchgeführt haben", sagt Jeffrey Hangst, Sprecher des Alpha-Experiments, dem STANDARD. Vor einem Jahrzehnt habe Laserkühlung von Antimaterie noch wie Science-Fiction geklungen.

Kühlen per Laser

Die Methode der Laserkühlung ist bereits seit vier Jahrzehnten bekannt und gehört zum Standardrepertoire vieler Physiklabore. 1997 wurden Steven Chu, Claude Cohen-Tannoudji und William D. Phillips für deren Entwicklung mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Bei der Laserkühlung setzt man Laserstrahlen ein, um die Eigenbewegung von Atomen abzubremsen. "Photonen haben zwar keine Ruhemasse, aber sie haben einen Impuls", sagt Hangst. "Im atomaren Bereich kann dieser Impuls sehr signifikant sein."

Stimmen Richtung und Frequenz des Lasers, bremsen die Lichtteilchen die Atome ab. "Man stelle sich vor, ein Atom bewegt sich in Richtung der Lichtquelle und absorbiert ein Photon. Es wird dabei einen kleinen Stoß erfahren und der wirkt sich auf die Geschwindigkeit aus", sagt Hangst. Dadurch können Atome bis knapp über den absoluten Nullpunkt heruntergekühlt werden.

Jeffrey Hangst ist Sprecher des Alpha-Experiments am Europäischen Kernforschungszentrum Cern.
Foto: Cern

"Fünf oder sechs Wunder gleichzeitig"

Will man Antimaterie mittels Laserlicht kühlen, ergeben sich aber mehrere Schwierigkeiten. Die erste Herausforderung ergibt sich schon einmal dadurch, überhaupt Antimaterie zu erzeugen. "Es ist sehr schwierig, die richtige Art von Licht zu produzieren, um mit Wasserstoff zu interagieren", sagt Hangst. Selbst für Wasserstoff ist das eine enorme Herausforderung, umso mehr für Anti-Wasserstoff.

"Es müssen so viele Dinge auf einmal funktionieren, wenn man dieses Experiment durchführen will", sagt Hangst. "Man muss fünf oder sechs Wunder aneinanderreihen und erreichen, dass sie alle auf einmal funktionieren – dann ist das Experiment gelungen."

Wo ist all die Antimaterie hin?

Die erste erfolgreiche Laserkühlung von Antimaterie ist für Hangst ein "Gamechanger" in deren Erforschung. Die Herstellung von Anti-Wasserstoff nahe dem absoluten Temperaturnullpunkt ermöglicht viel präzisiere Messungen seiner inneren Struktur und seines Verhaltens unter dem Einfluss der Schwerkraft. Vergleicht man solche Messungen mit denen von normalem Wasserstoff, ließen sich außerdem Unterschiede zwischen Materie und Antimaterie aufdecken. "Jede Möglichkeit, die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie noch genauer zu testen, ist klarerweise hochinteressant", sagt Hangst.

Das Alpha-Experiment am Cern ist auf die Erforschung von Antimaterie spezialisiert.
Foto: Cern

Doch warum ist es überhaupt so wichtig, die rätselhafte Symmetrieverletzung von Materie und Antimaterie immer und immer wieder mit noch höherer Präzision zu messen? "Ich würde diese Frage gerne umdrehen", sagt Hangst: "Wie könnte man widerstehen, es nicht zu tun? Es gibt hier offensichtlich etwas in der Natur des Universums, was wir nicht verstehen: Warum dominiert die Materie in unserem Universum, warum ist die Antimaterie verschwunden?" Für ihn sei es eine "wirklich große Motivation, dass es mit solchen Experimenten möglich sein könnte, einen genaueren Blick auf diese Fragen zu werfen". Auch technisch und experimentell ist das Projekt sehr herausfordernd. "Ich kann mir nichts Schwierigeres vorstellen, womit ich meine Zeit verbringen könnte." (Tanja Traxler, 2.4.2021)