Chelsea, Brockton Springfield und Lawrence sind mittelgroße, unscheinbare Ortschaften im US-Bundesstaat Massachusetts, in die sich kaum ein ausländischer Besucher verirren würde. Die Städte bieten keine Sehenswürdigkeiten und kämpfen mit hoher Kriminalität. Diese Orte waren auch jene, in denen die Pandemie 2020 besonders stark wütete. Nirgendwo sonst im US-Bundesstaat stieg die Sterblichkeitsrate derart an.

Eine Gruppe von Forschern der Harvard University hat die Todesfälle in Massachusetts zu Beginn der Pandemie anhand der Postleitzahlen analysiert und diese Daten mit Informationen zu Einkommen und Wohnungsverhältnissen verknüpft. Das Ergebnis zeigte einen klaren Zusammenhang zwischen Armut und Corona-Todesfällen. In Ortschaften, in denen ein Fünftel der Einwohner unter der Armutsschwelle lebt, gab es auf die Bevölkerung gerechnet doppelt so viele Todesfälle wie in jenen Orten, wo nur fünf Prozent der Menschen extrem arm sind. Darum starben in Brockton, Springfield und Co mehr Menschen.

Experten bestätigen den Befund des IWF. Doch bis die Kluft tatsächlich sichtbar sein wird, dürfte es noch dauern.
Foto: AFP/SPENCER PLATT

Diese Harvard-Untersuchung wird in einer am Donnerstag veröffentlichten Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF) prominent zitiert, in der sich der IWF erstmals mit der Frage auseinandersetzt, wie die Pandemie die soziale Ungleichheit beeinflusst.

Kein Einzelfall

Der Bericht hält zunächst fest, dass die Erfahrungen an der US-Ostküste kein Einzelfall waren und viele Studien zeigen, dass mehr Armut mit mehr Corona-Toten einhergeht. So zeigten Analysen, dass in den ärmsten französischen Städten die Zahl der Todesfälle doppelt so hoch war wie in den übrigen Landesteilen. Armut bedeute beengtere Wohnverhältnisse, Social Distancing sei da kaum machbar. Prekär Beschäftigte konnten zudem meist nicht ins sichere Homeoffice ausweichen, weshalb die Zahl der Infektionen in diesen Gruppen höher sei, so der Währungsfonds.

Damit nicht genug, warnt der IWF davor, dass die Welt nach der Pandemie ungleicher sein wird als davor. Als Beleg werden verschiedene Beispiele aufgezählt. So erwarten die Experten der Washingtoner Institution, dass durch Corona weltweit 95 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut rutschen werden. Wiederum das Beispiel USA zeige, dass Jobverluste fast ausschließlich im Niedriglohnsektor konzentriert waren.

Was der IWF abseits vieler Einzelfälle nicht liefert, ist eine zusammenfassende Erzählung dazu, wie die Pandemie die Ungleichheit insgesamt beeinflusst. Das sei auch gar nicht möglich, sagt der Gleichheitsforscher Jakob Kapeller von der Universität Duisburg-Essen. Studien zu den Auswirkungen der Pandemie über viele Länder hinweg existierten bisher nicht. Was es aber gebe, sei eine Reihe von "mit freiem Auge" sichtbaren Hinweisen darauf, dass die Pandemie die soziale Kluft verstärke, so Kapeller.

Schlechtere Bezahlung in der Gastro

Dazu gehört für ihn etwa, dass die Jobverluste weltweit im Dienstleistungssektor konzentriert waren, besonders in Gastronomie und Hotellerie, wo Löhne traditional niedriger sind als etwa in der Industrie. Passend dazu hat eine Studie der EU-Agentur Eurofound vor kurzem gezeigt, dass unterm Strich auch in Europa nur schlechter bezahlte Jobs vernichtet worden sind. Teilt man die Einkommensbezieher in fünf Gruppen, gingen in den beiden mit der niedrigsten Bezahlung rund sechs Millionen Jobs verloren. Rund eine Million Arbeitsplätze sind in der Gruppe mit den höchsten Einkommen entstanden. Das kompensiert also den Verlust bei niedrigen Einkommen nicht.

Neben diesen asymmetrischen Verwerfungen am Arbeitsmarkt gibt es für den Ökonomen Kapeller noch einen Hinweis darauf, dass die Ungleichheit steigt: Die Schieflage in der Vermögensverteilung, die ohnehin größer war als bei Einkommen (siehe Grafik), sei dabei, weiter zuzulegen. Das liege vor allem daran, dass die Aktienmärkte gut durch die Krise gekommen seien: Die größten Finanzmärkte in den USA, Europa und Japan lägen inzwischen über dem Vorkrisenniveau, und Aktienbesitz sei typischerweise bei den reichsten fünf Prozent konzentriert, sagt Kapeller.

Verzögerte Wirkung

Wobei der Münchner Ökonom Andreas Peichl vom Ifo-Institut auf einen anderen Punkt aufmerksam macht: Als unmittelbare Folge der Pandemie ist es vielen Ländern 2020 gelungen, einen Anstieg der Ungleichheit abzufedern. Für Deutschland zeigen Simulationsberechnungen, dass die Einkommensungleichheit bislang nicht gestiegen sein dürfte. Für Österreich legt das eine Analyse des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) ebenfalls nahe.

Aber wie kommt das? Auch in Österreich waren es vor allem Arbeiter, oft prekär beschäftigte, die ihre Jobs verloren haben. Besser bezahlte Angestellte erlitten keine Verluste oder wenn, dann dank Kurzarbeit deutlich geringere.

Gleichheitsforscher Peichl sagt, dass hier staatliche Transfers, wie erhöhte Familienzahlungen oder Zuschüsse zum Arbeitslosengeld, viel abgefangen hätten. Der Punkt: Diese Sonderhilfen laufen nach und nach aus. Damit dürfte die Vermögens- wie Einkommensungleichheit zeitversetzt steigen.

Peichls Conclusio: "Wir müssen uns überlegen, wie wir sicherstellen können, dass wir durch die Krise nicht dauerhafte Verlierer bekommen." (András Szigetvari, 2.4.2021)