Michael Chalupka bei seiner feierlichen Amtseinführung zum evangelischen Bischof im Oktober 2019 in Wien.

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Seinen Jobwechsel von der Diakonie ins Bischofsamt hat sich Michael Chalupka anders vorgestellt – nur wenige Wochen verbrachte er in seinem neuen Amt ohne Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen, die ja auch die Kirchen treffen. Das Gespräch mit dem STANDARD findet am Karfreitag, dem für die evangelischen Gläubigen höchsten Feiertag, auch nicht persönlich, sondern via Video statt – ganz ohne technische Probleme.

STANDARD: Herr Chalupka, das ist Ihr zweites Osterfest als Bischof – und das zweite Osterfest während der Pandemie. Ist auch bei Ihnen schon Corona-Müdigkeit eingetreten?

Chalupka: Ich glaube, diese Müdigkeit gibt es bei uns allen. Zum anderen bin ich aber hoffnungsfroh, weil sich das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt in den Pfarrgemeinden bewährt haben. Wenn es darum gegangen ist, digitale Formate zu entwickeln zum Beispiel. Mir ist es ganz wichtig, dass wir zu Ostern analog und digital für die Menschen da sind. Da ist ganz viel entstanden, gerade in einer Zusammenarbeit von Jüngeren und Älteren. Da ist mir um unsere Pfarrgemeinden und um unseren Zusammenhalt nicht bang. Und ich denke, die digitale Kirche war nicht nur ein Lückenbüßer, vieles wird bleiben. Die evangelische Kirche ist ja entstanden aus einer Kommunikationsbewegung. Martin Luther wäre heute der Erste, der seine Botschaft in den sozialen Medien verkünden würde.

STANDARD: Esoteriker und Verschwörungstheoretiker sind seit der Pandemie hoch im Kurs – viele Menschen glauben anscheinend, hier Antworten zu finden. Hat die Kirche etwas falsch gemacht?

Chalupka: Sicher, man macht immer was falsch. Und diese Demonstrationen sind nicht nur ein Ort, wo Regeln gebrochen werden, sondern wo man sich auch gemeinschaftlich treffen kann. Danach sehnen sich viele. Ich glaube trotzdem, dass gerade auch die Kirche viel an Gemeinschaft anzubieten hat. Und weil wir am Karfreitag miteinander sprechen: Das ist ein Tag, der zeigt, dass zum Menschsein auch die Verletzlichkeit und auch die Unverfügbarkeit der Zukunft dazugehört. Wenn ich daran denke, dass man vor zwei Jahren nicht bereit war, für einen Tag die Geschäfte zu schließen, um daran zu erinnern, dass nicht immer alles nur glänzende Oberfläche ist, sondern dass auch diese Unverfügbarkeit, diese Verletzlichkeit dazugehört – das ist jetzt Alltag. Wir erleben einen Karfreitagsmoment. Ich denke, das ist etwas, wo wir zeigen können, dass christlicher Glaube sehr geerdet ist und nicht abhebt und nur vertröstet auf irgendetwas.

STANDARD: Wenn Sie schon den Karfreitag ansprechen: Sie waren über die Entscheidung der Bundesregierung, diesen Tag zum persönlichen Feiertag zu machen, schwer enttäuscht und haben in der Folge ein "Zeichen der Wertschätzung" für die evangelischen Kirchen gefordert. Was ist daraus geworden?

Chalupka: Der staatliche Feiertag war eine Anerkennung der Verfolgung, der Diskriminierung, der Deportationen von Evangelischen in der Zeit der Gegenreformation. Nennen wir es ein Denkmal. Stellen Sie sich vor, so ein Denkmal mitten in der Stadt wird einfach umgeschmissen. So haben sich die Evangelischen damals gefühlt. Es ist wichtig, dass bei Minderheiten im Land auch die historische Dimension Respekt und Achtung findet. Und hier war das Gefühl, missachtet zu werden. Da steht noch immer etwas aus.

STANDARD: Was kann das sein?

Chalupka: Man wird über diesen persönlichen Feiertag, der viele Schwierigkeiten mit sich bringt und wo es sicher noch rechtliche Schritte von Betroffenen gibt, reden müssen. Eine Sache, die mit dem Karfreitag nur inhaltlich zu tun hat, die mir aber wichtig ist: dass es ein öffentliches Gedenken für die Opfer der Corona-Pandemie geben muss. Ob das ein Tag ist oder eine andere Form. Mir fällt nämlich auf, dass vonseiten der Bundesregierung dieses Thema nicht beziehungsweise nur sehr spärlich behandelt wird. Hinter den Statistiken und Zahlen verschwinden die Lebensgeschichten, die Namen, die Menschen, das, was sie erlebt haben. Und es braucht einen Ort, wo wir gemeinschaftlich daran denken.

STANDARD: Warum passiert das nicht?

Chalupka: Das kann ich nur vermuten. Gedenken hat immer auch mit Schuld zu tun, die man sich eingestehen müsste. Und das ist ja nicht die Stärke. Man sucht die Schuld lieber bei anderen.

STANDARD: Frauen haben Sie als "Heilige dieser Krise" bezeichnet. Entlastet werden sie durch diese Form der Anerkennung allerdings nicht …

Chalupka: Das ist das Thema derer, die in dieser Krise systemrelevant sind und waren: Das sind Menschen in Pflegeberufen, das sind Kassiererinnen – man muss das immer in der weiblichen Form sagen, denn alle diese Berufe sind zu mehr als 70 Prozent weiblich –, das sind aber auch die Familien, wo zum Beispiel am Donnerstag die angepasste Notstandshilfe ausgelaufen ist, während die Corona-Pandemie weiterläuft. Und das ist etwas, was ich überhaupt nicht verstehe – sowohl bei der erhöhten Notstandshilfe als auch bei der Stundung der Mieten. Etwas, das auch Frauen und Familien besonders trifft, ist die Abschaffung der Mindestsicherung. Die Umstellung auf die Sozialhilfe mitten in einer Zeit, wo die Armut steigt, das ist keine gute Idee.

STANDARD: Sie sind also mit der Armutskonferenz, die Sie damals mitbegründet haben, nach wie vor in engem Austausch …

Chalupka: Armut ist ein Thema, das die Kirchen immer zu beschäftigen hat, weil das zu unserem innersten Auftrag gehört. Der Zusammenhalt, den ich anfangs erwähnt habe, der hat sich auch in dieser diakonisch-sozialen Weise bewährt. Hier werden Menschen zum Beispiel auch bei der Antragstellung unterstützt oder beim Anmelden für Testtermine. Auch aus diesem Grund ist es mir wichtig zu betonen, dass zu Ostern die Kirche analog und digital für die Menschen da ist. Es ist immer Aufgabe der Kirche, direkt zu helfen, aber auch politisch einzumahnen, dass Menschen, die arm sind, Teil der Gesellschaft sind und den gleichen Respekt bekommen sollen vonseiten der Regierung und der Politik wie andere.

STANDARD: Apropos Regierung: Haben Sie die Chatnachrichten zwischen Thomas Schmid und Bundeskanzler Kurz verfolgt?

Chalupka: Wer hätte es nicht verfolgen können?

STANDARD: Hat Sie überrascht, wie gering die Wertschätzung in der christlichsozialen Partei für Kirchenvertreter ist?

Chalupka: Was mich mit Sorge erfüllt, ist, dass aus diesen Chats eine mangelnde Achtung des Gegenübers spricht. Und eine klammheimliche Freude an der Demütigung. Das macht mich noch besorgter. Durch diese mangelnde Achtung wird aber nicht nur die Würde des anderen infrage gestellt – in dem Fall der katholischen Kirche. Da könnte man sagen, das ist ihr Problem. Aber unser aller Problem ist, dass Amtsträger, die sich in dieser Weise äußern, auch der Würde des eigenen Amtes schaden. Mangelnde Achtung gegenüber Menschen auf der Flucht oder gegenüber Menschen in Armut oder gegenüber Menschen, die als systemrelevant gelten – es ist immer dasselbe. Wenn man diese Werte untergräbt, dann beschädigt man sich selber. Denn: Diese Werte sind unteilbar.

STANDARD: Unlängst haben sich ja sogar FPÖ-Bürgermeister für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Die Bundesregierung bleibt dabei: Hilfe vor Ort.

Chalupka: An Hilfe vor Ort ist ja nichts falsch. Nur, die zwei Begründungen, warum man Menschen laut der Regierung nicht evakuieren könne, haben sich als falsch erwiesen. Erstens: Hilfe vor Ort ist nicht möglich und ist auch nicht gewollt. Das ist das Erschreckende an den griechischen Lagern. Denn erfahrene Katastrophenhelfer, mit denen ich selber unterwegs war, haben mir gesagt, so etwas haben sie noch nie gesehen. Die haben aber Lager in Somalia oder Pakistan besucht, die funktionieren. Wie man so etwas in menschenwürdiger Weise macht, das weiß man also. Und wie es jetzt auf europäischem Boden abläuft, zeigt, dass es gewollt ist, hier Menschen in absolutem Elend leben zu lassen, um Abschreckung zu erzielen.

STANDARD: Und der Pull-Effekt?

Chalupka: Es haben ja manche Länder Kinder und Jugendliche aufgenommen, da ist gar nichts passiert. Ich glaube, das ist das große Thema zu Ostern: Wie kommen wir wieder zu einem Wertesystem, das Menschen achtet und wo Abwertung und die Demütigung anderer keinen Platz haben.

STANDARD: Wie kommen wir dorthin?

Chalupka: Indem wir Zeichen setzen, wie zum Beispiel dazuzulernen. Ich glaube, Verantwortung übernehmen heißt auch, dass man nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigt, sondern zu sagen, wo wir – in der Pandemie, in der Flüchtlingsarbeit – etwas falsch gemacht haben. Ich gehe ja davon aus, dass man Hilfe vor Ort wirklich leisten will. Wenn ich dann nach einem Jahr merke, das funktioniert nicht, dann kann ich doch nicht immer noch sagen, dass das das einzig Wichtige ist.

STANDARD: Was entgegnen Sie jenen, die sagen, wir haben jetzt so viel verloren in der Krise, wir können uns nicht auch noch um Flüchtlinge kümmern?

Chalupka: Wenn die Menschenwürde ein großer Wert ist, dann wird sowohl den Menschen hier in Österreich geholfen als auch Menschen außerhalb. Was man jetzt sieht, ist – und ich halte nochmals fest, dass seit Donnerstag wieder mehr Armut produziert wird, weil die Corona-Maßnahmen bei der Notstandshilfe ausgelaufen sind –: Wenn es an der Achtung vor dem Einzelnen fehlt, dann fehlt es überall. Es wird niemandem hier mehr geholfen, weil einem Flüchtlingskind auf Lesbos nicht geholfen wird.

STANDARD: Sie politisieren als Bischof prinzipiell nicht gerne, dennoch: Sind Sie enttäuscht von den Grünen?

Chalupka: Ich sehe alle in der Pflicht, weit über die Politik hinaus, aber natürlich insbesondere die gerade Regierenden, weil wir sie gewählt haben. Und ich denke, gerade in der Frage der Bekämpfung der Armut oder in der Migration ist diese Regierung noch vieles schuldig.

STANDARD: Apropos gegenseitiger Respekt: Katholische Pfarren haben als Zeichen des Protests Regenbogenfahnen aufgehängt, viele Fahnen wurden zerstört. Wie sieht es mit dem Respekt für Homosexuelle in der evangelischen Kirche derzeit aus?

Chalupka: Es war bei uns immer schon klar, dass homosexuelle Menschen, wenn sie das erbitten, gesegnet werden können. Wegen der staatlichen Anerkennung der Eheschließung von homosexuellen Partnerschaften gab es damals auch bei uns Debatten, wie wir damit umgehen. Dass das auch in der evangelischen Kirche viele bewegt, ist klar. Bei uns wurde das so gelöst, dass die Segnung möglich ist, wenn Gemeinden und Pfarrerinnen und Pfarrer zustimmen. Diese Autonomie ist Teil unseres Selbstverständnisses.

STANDARD: Gibt es eigentlich etwas, das Sie aus Ihrer Zeit bei der Diakonie vermissen?

Chalupka: Ich vermisse beispielsweise die Begegnung mit der Theatergruppe Malaria – einer Gruppe von Menschen mit Downsyndrom und Behinderung. So etwas geht nicht auf Distanz. Diesen Austausch, das persönliche Treffen vermisse ich sowohl in der Kirche als auch in der Diakonie.

STANDARD: Haben Sie während der Pandemie neue Hobbys gefunden? Das Tuba-Lernen dürfte ja auch auf Eis liegen …

Chalupka: Ich habe ein uraltes Hobby wiederentdeckt: Als Jugendlicher und Student habe ich sehr viel Schach gespielt. Das geht heute ja auch digital wunderbar. Da kann man dann mit der ganzen Welt und rund um die Uhr spielen. Also, wenn ich irgendwann in der Nacht spiele, dann mit irgendwelchen Menschen aus Malaysia oder Mexiko. Das ist wirklich spannend. (Lara Hagen, 2.4.2021)