Kate Bingham hat Boris Johnson möglicherweise seinen Job gerettet.

Foto: SV / Tom Kates

Ein Anruf des Premierministers stellt natürlich generell eine Denkwürdigkeit dar. Ganz bestimmt trifft dies auf das Gespräch zu, das der gerade von einer schweren Covid-Erkrankung genesene Boris Johnson Anfang Mai 2020 mit Kate Bingham führte. An die Kernsätze erinnert sich die erfahrene Risikokapital-Bankerin genau: "Wir müssen damit anfangen, Leben zu retten. Dafür brauche ich Ihre Hilfe."

Das Telefonat muss im Nachhinein als einer der wichtigsten Schritte in der britischen Bekämpfung von Sars-CoV-2 gelten. Ganz bestimmt stellt es einen lichten Moment dar in den Monaten langer Düsternis. Denn viel zu lang war das Vorgehen der Londoner Regierung von arroganter Herablassung und amateurhaftem Dilettantismus geprägt, reihte sich Fehlentscheidung an Fehlentscheidung.

Mehr als 130.000 Tote

Viel zu lang missachteten Johnson und seine engsten Berater die Warnungen von Wissenschaftern vor den verheerenden Folgen der Pandemie. Sowohl der erste als auch der zweite Lockdown kamen viel zu spät, die Grenzen blieben lange praktisch unkontrolliert, Alten- und Pflegeheime wurden mangelhaft geschützt, Contact-Tracing fehlte zunächst völlig und bleibt bis heute lückenhaft. All das trug dazu bei, dass die Insel mehr als 130.000 Corona-Tote zu beklagen hat, die höchste Rate unter vergleichbar großen Industriestaaten.

Mit dem Anruf bei Bingham legte der Regierungschef aber das Fundament für das phänomenal erfolgreiche Impfprogramm, mit dem das Vereinigte Königreich seit Wochen die Welt beeindruckt. Ob sie als Leiterin einer Taskforce für den Ankauf von Impfstoffen zur Verfügung stehe, lautete Johnsons Frage. Bingham zögerte, wie sie später der BBC anvertraute: "Traue ich mir das zu?"

Das deutet auf herzerfrischende Bescheidenheit, jedenfalls auf eine beinahe rührende Naivität hin. Denn wer wäre besser qualifiziert gewesen, die wissenschaftliche Gründlichkeit und gleichzeitig die kommerzielle Gewandtheit eines zukünftigen Impfproduzenten zu beurteilen? Seit ihrem Biochemie-Studium in Oxford (Note Eins) und einem MBA in Harvard arbeitete die älteste Tochter des früheren höchsten Richters des Landes, Lord Thomas Bingham, an ebendieser Schnittstelle – seit 1991 bei Schroder Ventures, heute SV Health Investments.

"Der aufregendste Job der Welt"

Als Managing Partner betreute sie dort den Biotechnik-Sektor, investierte also in Start-ups, deren neue Medikamente Fortschritte bei der Heilung von Krankheiten versprachen. "Mein Leben besteht daraus zu fragen: Welche tollen Ideen gibt es, und wie können wir sie in Medikamente umsetzen, die den Patienten weiterhelfen? Es ist der aufregendste Job der Welt", hat die Bankerin in der "Times" geschwärmt.

Längst gehörte die Mutter dreier erwachsener Kinder und Hobby-Oboistin dem Aufsichtsrat des weltberühmten Crick-Instituts an, eines Biomedizin-Forschungsinstituts, und diente als Mitglied des Regierungsgremiums zur Förderung von Life-Science-Unternehmen. Johnsons wissenschaftlichem Chefberater Patrick Vallance war die schnell sprechende Expertin also wohlbekannt, als er dem Chef den Anruf bei Bingham empfahl. Diesem dürfte die nach eigenen Angaben unpolitische Spitzenmanagerin in anderer Hinsicht ein Begriff gewesen sein, nämlich als Frau des klugen Tory-Abgeordneten und Finanzstaatssekretärs Jesse Norman.

Direkter Zugang zum Premier

Binghams Zusage zur Abordnung für sechs Monate ohne jede Vergütung beruhte auf direktem Zugang zum Premierminister und möglichst wenig Bürokratie: "Wenn man 58 Leute mitinformieren muss, werden keine schnellen Entscheidungen getroffen." Genau diese aber waren nötig, um dem Land möglichst guten Zugang zu möglichst vielen Impfdosen zu sichern.

Von Anfang an behielt Binghams Team nicht nur die Impfstoffforschung, sondern auch die anschließende industrielle Fertigung der Medikamente im Auge. Dafür wurden sowohl die Wissenschafter der Uni Oxford wie auch die beteiligten Firmen, vor allem Astra Zeneca, großzügig subventioniert und mit ihnen garantierte Abnahmemengen vereinbart. Zudem galt für ihre Impfstoffe nicht die sonst übliche Produkthaftung.

Biontech/Pfizer erhielt einen Auftrag über 40 Millionen Dosen, bei Astra Zeneca orderte Bingham sogar 100 Millionen. Als dritter Impfstoff ist mittlerweile das Präparat der US-Firma Moderna freigegeben, vom Frühjahr an erwarten die Briten von dort weitere 17 Millionen Dosen. Mit der deutschen Firma Curevac ist der Kauf von zusätzlichen 50 Millionen Dosen vereinbart, falls sich deren Wirkstoff in den klinischen Versuchen als geeignet erweist.

Potenziell 357 Millionen Impfdosen

Insgesamt schloss das Team um Bingham Verträge über potenziell 357 Millionen Dosen und damit fünfmal so viel wie die derzeitige Bevölkerung des Landes (66 Millionen). Dabei habe der Preis eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle gespielt, berichtete die Bankerin der deutschen "Welt".

Als entscheidend für das Gelingen ihrer Aufgabe identifizierte Bingham die Einrichtung einer Datenbank, mit der das Nationale Gesundheitssystem (NHS) rasch bis zu 400.000 Freiwillige aller Altersstufen für Medikamentenforschung zusammentrommeln kann. Das ermöglichte den Unternehmen die Beschleunigung der wichtigen klinischen Versuchsreihen, auf denen wiederum die rasche Zulassung durch die Arzneimittelbehörde MHRA beruhte.

Impftempo nimmt ab

Inzwischen sind auf der Insel mehr als 30 Millionen Menschen mindestens einmal gegen Sars-CoV-2 geimpft, 45,5 Prozent der gesamten Bevölkerung. Bei den über 70-Jährigen liegt die Impfquote bei 95 Prozent. In diesem Monat wird sich der Prozess ein wenig verlangsamen; zum einen gibt es Lieferengpässe, zum anderen müssen die vorhandenen Dosen zunehmend an jene verimpft werden, die zu Jahresbeginn ihre erste Dosis erhalten haben. Immerhin lag die Insel zu Wochenbeginn auch bei den zweifach Geimpften bei sechs Prozent der Bevölkerung und damit vor den vergleichbar großen Ländern Deutschland (fünf) und Frankreich (vier).

Zur Rettung vieler Menschenleben, zur Impfung von mehr als 30 Millionen Briten, darunter vor 14 Tagen auch der 56-jährige Johnson, hat Bingham gewiss beigetragen. Womöglich hat sie damit auch das politische Überleben des Premierministers gesichert. (Sebastian Borger, 2.4.2021)