Die Vereinigten Staaten von Amerika erleben eine dritte "Reconstruction", sagt der Ökonom Jeffrey D. Sachs im Gastkommentar.

Die USA sind eine Nation mit zwei Kulturen. Die erste Kultur brachte die Sklaverei, den Genozid an den Ureinwohnern, die "Jim Crow"-Gesetze, die die weiße Vorherrschaft durchsetzten, und die Schikanen, Lügen und Grausamkeit von Ex-Präsident Donald Trump hervor, die im Aufstand im Kapitol am 6. Jänner gipfelten.

Die zweite Kultur brachte die Befreiung der Schwarzen, die Bürgerrechtsbewegung, Präsident Barack Obama und jetzt die Wahl von Joe Biden. Die weiße suprematistische Kultur – der sich eine schrumpfende Minderheit verschrieben hat – stützt ihre Macht seit jeher auf Gewalt und die Beschneidung des Wahlrechts. Daher ist der derzeitige Kampf um das Wahlrecht zugleich ein Kampf um die Zukunft der USA.

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Für Präsident Biden ist das restriktive Wahlrecht im Bundesstaat Georgia ein Beispiel für modernen Rassismus.
Foto: Reuters / Jonathan Ernst

Das Jim-Crow-System

Der Kampf der zwei Kulturen entfaltet sich derzeit im ganzen Land und in Washington, D.C. Bidens Wahlsieg hat die weißen Suprematisten aufgestachelt, ihre Bemühungen zur Beschneidung des Wahlrechts noch zu verschärfen. Die republikanische Partei weiß, dass sie bei einer fairen Wahl nicht die Macht im Lande erringen kann. Daher erlassen von den Republikanern kontrollierte Parlamente in den US-Bundesstaaten derzeit neue Beschränkungen für die Wahlteilnahme, die sich gezielt gegen Nichtweiße richten. In Washington andererseits treibt die inklusive Kultur im Kongress die bedeutendste Wahlrechtsreform seit den 1960er-Jahren voran. Ihr Ziel ist, allen US-Amerikanern die Möglichkeit zur Wahlteilnahme zu garantieren.

Die Beschneidung des Wahlrechts ist seit langem ein Instrument der weißen Suprematisten. Am plakativsten wird ihre Geschichte von W.E.B. Du Bois in dem 1935 erschienenen Buch Black Reconstruction in America erzählt. Du Bois beschreibt in erschütternder, umfassender Weise den heroischen Kampf der Afroamerikaner, zunächst, im Bürgerkrieg (1861–65), um ihre Freiheit, und dann, in den Jahren der Reconstruction (1865–77), durch Bildung und harte Arbeit um die vollständige Emanzipation als Bürger. Doch wurde diese Emanzipation durch Gewalt und Terrorismus der Weißen im Süden und die Gleichgültigkeit oder den Rassismus vieler Weißer im Norden grausam unterdrückt. Im Kern des Jim-Crow-Systems nach der Reconstruction stand, unter eklatanter Verletzung der Verfassung, die Verhinderung der afroamerikanischen Wahlteilnahme.

Rassistische Gegenreaktion

Die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre führte zur Zweiten Reconstruction, deren Ziel einmal mehr der Wiederaufbau der US-amerikanischen Demokratie war – diesmal durch Abschaffung der Jim-Crow-Gesetze. Doch die heroischen Fortschritte, darunter der Civil Rights Act von 1964 und der Voting Rights Act von 1965, provozierten eine weitere rassistische Gegenreaktion. Als die Demokraten aus dem Norden im Kongress diese Gesetze gegen den Widerstand der segregationistischen Demokraten aus dem Süden verabschiedeten, führte dies zur Spaltung der Demokratischen Partei. Die von Richard Nixon geführten Republikaner verfolgten dann in der Folge ihre berüchtigte "Südliche Strategie", um bei der Wahl 1968 die weißen Rassisten auf ihre Seite zu ziehen.

Die Weißen im Süden wanderten in Scharen von den Demokraten zu den Republikanern ab, während der Rassismus selbst blieb. Auf die "Südliche Strategie" folgten neue Taktiken, um Wähler in Massen von den Wahlen auszuschließen. Diese stützten sich diesmal stark auf die massenhafte Verhängung von Gefängnisstrafen gegen Farbige für geringfügige – oft nicht einmal reale – Gesetzesverstöße, durch die die Bestraften, häufig auf Lebenszeit, ihr Wahlrecht verloren.

Gezielt gegen Farbige

Doch die Vormachtstellung der weißen Suprematisten bröckelt seit langem. Die Wahl Obamas 2008, seine Wiederwahl 2012 und dann 2020 die Wahl von Vizepräsidentin Kamala Harris – der ersten Frau und ersten Farbigen, die dieses Amt innehat – belegen dies. In Reaktion darauf versuchte Trump in schamloser Weise, sich an der Macht zu halten, indem er deren Ergebnis zu untergraben suchte: zuerst, indem er versuchte, republikanische Behördenvertreter in den Bundesstaaten zu überzeugen, die Wahlergebnisse zu fälschen, und dann, indem er versuchte, den Kongress an der Bescheinigung der Ergebnisse zu hindern.

Wie das Brennan Center for Justice der Law School der New York University derzeit sorgfältig dokumentiert, hat Trumps Niederlage zu einer Welle von republikanischen Abgeordneten eingebrachter Gesetzesvorlagen zur Beschneidung des Wahlrechts – mehr als 250 in 43 Staaten – geführt. Das Brennan Center fasst es so zusammen: "Diese Gesetzesvorlagen werden die Stimmabgabe erschweren, richten sich gezielt gegen Farbige und nehmen genau jene Änderungen bei der Stimmabgabe – wie etwa die Briefwahl – ins Visier", die die während einer Pandemie abgehaltene Wahl von 2020 "nicht nur erfolgreich, sondern überhaupt erst möglich gemacht haben".

Der Fall Georgia

Biden hat das neue, von den Republikanern in Georgia verabschiedete Gesetz zur Beschränkung des Wahlrechts zu Recht als klaren Fall von "Jim Crow im 21. Jahrhundert" bezeichnet. Genau 160 Jahre nach der Sezession der südlichen Sklaverei-Staaten mit dem Ziel, die Sklaverei und die weiße Vorherrschaft aufrechtzuerhalten und auszuweiten, finden sich die USA daher jetzt in ihrer Dritten Reconstruction wieder. Die erste war nötig, um die Sklaverei abzuschaffen, die zweite, um die Apartheid zu beenden, und die dritte ist es nun, um die Beschneidung von Wahlrechten und die massenhafte Verhängung von Gefängnisstrafen zu beenden.

"Die Demokraten werden in ihrem Streben, die weiße Vorherrschaft ein für alle Mal zu beerdigen, nicht tatenlos zusehen."

Der US-Rassismus stirbt langsam, doch er stirbt. Das US-Repräsentantenhaus hat gerade den bedeutendsten Gesetzesentwurf zur Wahlrechtsreform und zur politischen Reform seit dem Voting Rights Act an den Senat weitergeleitet. Diese Gesetzesvorlage mit dem Namen S.1 im Senat würde landesweite Standards zur Erleichterung der Eintragung in die Wählerverzeichnisse und zur Stimmabgabe festlegen, US-Bundesgesetze gegen die Diskriminierung von Wählern durchsetzen und die Wahlrechte entlassener Häftlinge wiederherstellen. Das Gesetz würde zudem mehrere wichtige Schritte zur Reform der Wahlkampffinanzierung umsetzen.

Der Senat wird die Vorlage S.1 in Kürze aufnehmen, und die die weißen Suprematisten repräsentierenden republikanischen Senatoren werden versuchen, sie durch das "Filibuster" zum Scheitern zu bringen, das erfordert, dass ein Gesetz mit 60 Stimmen statt der einfachen Mehrheit von 51 Stimmen verabschiedet wird. Das ist dieselbe Taktik, die die Befürworter der Rassentrennung bis in die 1960er-Jahre nutzten, um Bürgerrechtsgesetze zu vereiteln, und die sie erfolglos in den 1960er-Jahren zu nutzen versuchten. Ihr Versuch dürfte auch diesmal scheitern. Die Demokraten werden in ihrem Streben, die weiße Vorherrschaft ein für alle Mal zu beerdigen, nicht tatenlos zusehen, während Rassisten versuchen, die Wahlrechte der Farbigen zu beschneiden. Der Senat wird vermutlich die Regeln ändern, um ein Filibuster dieses wichtigen Gesetzes zu verhindern und mehr als 230 Jahre nach Verabschiedung der US-Verfassung endlich eine faire Wahlteilnahme aller US-Amerikaner sicherzustellen. (Jeffrey D. Sachs, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 5.1.2021)