Foto: APA / AFP / Doychonov

Bulgariens Premier Bojko Borissow verschwendete keine Zeit. Er schlug sofort nach den Wahlen vor, eine Expertenregierung zu bilden. Und er versuchte am Sonntag, gleich nach der Parlamentswahl, die Verluste seiner Partei Gerb sogar positiv umzudeuten: "Ich bin froh, dass so viele Parteien ins Parlament gekommen sind, weil ich es leid bin, allein verantwortlich zu sein", sagte der langjährige bulgarische Regierungschef. Gleich danach meinte er allerdings, dass die anderen Parteien kein Fachwissen anbieten könnten. "Ich biete Ihnen Frieden. Lassen Sie uns Experten einsetzen, übernehmen Sie Verantwortung!", appellierte er an das bald neu zusammengesetzte Parlament.

Viele andere Alternativen hat der Premier auch angesichts der Ergebnisse nicht. Dem Chef der langjährigen konservativen Regierungspartei Gerb, war der Machtverlust von rund sieben Prozentpunkten bei er Parlamentswahl am Sonntag anzusehen. Ersten Ergebnissen zufolge wählten nur noch rund ein Viertel der Bulgaren die Klientelpartei – zu wenige also, um mit den bisherigen Partnern, nationalistisch-rechten Parteien, eine Koalition zu schmieden.

TV-Entertainer räumt ab

Wie enttäuscht und frustriert viele Bulgaren sind, ist am besten daran abzulesen, dass die Wahlbeteiligung hoch war und der Sänger und Entertainer Slawi Trifonow mit gut 18 Prozent noch mehr Protestwähler hinter sich vereinen konnte, als die Meinungsumfragen vorausgesagt hatten. Trifonow hat mit seiner Bewegung "Es gibt so ein Volk" vor allem Leute auf dem Land und junge Bulgaren angesprochen, die seit Jahrzehnten seine TV-Shows ansehen. Er hat allerdings keinerlei politische Erfahrung und auch kein richtiges Programm, außer, dass er die Gehälter der Abgeordneten kürzen will.

Offen ist aber, ob Borissow oder irgendwer anderer, eine Regierung bilden kann, ohne den enormen Erfolg von Trifonow zu berücksichtigen. Klar ist, dass die Gerb die Institutionen nicht mehr so wie in den vergangenen Jahren kontrollieren kann. Denn überraschend gut hat auch das Wahlbündnis Demokratisches Bulgarien (DB) abgeschnitten. Es kommt auf knapp zehn Prozent der Wählerstimmen. Bei dessen Wählern handelt es sich um junge, europäisch gesinnte, reformorientierte und urbane Bürgerinnen und Bürger, von denen vergangenes Jahr viele wochenlang auf die Straße gegangen waren, um mehr Rechtsstaatlichkeit einforderten.

Regierung ohne Gerb möglich

Theoretisch wäre nun auch eine Regierung ohne die Gerb möglich, wenn die Sozialisten diese unterstützen würden, obwohl die Bewegung von Trifonow und die DB vollkommen unterschiedliche Wähler ansprechen und andere Konzepte verfolgen. Am Ende wird die Regierungsbildung wohl von Trifonow abhängen, der 47 oder 48 Sitze im Parlament mit insgesamt 240 Abgeordneten belegen könnte.

Eine Koalition mit den nichtreformierten Sozialisten, die bei den Wahlen mehr als elf Prozentpunkte verloren und auf knapp 15 Prozent der Stimmen kommen, ist für die Gerb keine Option – wie wohl Trifonow diese Version bevorzugen könnte. Die Gerb hat aber durchaus Interesse an einer Zusammenarbeit mit den reformorientierten Kräften, zumal Bulgarien innerhalb der EU immer wieder wegen der mangelnder Rechtsstaatlichkeit kritisiert wird.

Fehlende Rechtsstaatlichkeit

In Bulgarien ist vor allem die Staatsanwaltschaft unter politischem Einfluss, einflussreiche und finanzstarke Personen können es sich richten, weil die Institutionen des Staates nicht alle Bürger gleich behandeln. 30 Jahre nach der wilden Privatisierung in den 1990ern ziehen noch immer die Oligarchen, die damals ihr Geld machten, an unsichtbaren Strippen. Viele haben diese postkommunistischen Verhältnisse satt. In der Hauptstadt Sofia kam die DB auf bis zu 30 Prozent der Stimmen.

Eine weitere Phase der Demokratisierung und vor allem der Schaffung eines unabhängigen Rechtsstaates wären auch dringend notwendig. Die andere wichtigste klientelistische Partei neben der Gerb, die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), die nach wie vor unter massivem Einfluss des Oligarchen Ahmed Dogan steht, kam auf 9,5 Prozent. Sie ist so etwas wie das Gegenstück zu Demokratisches Bulgarien (fast zehn Prozent) in der Parteienlandschaft: sie sieht sich als Vertreterin von ethnischen Gruppen wie Türken und Roma und verteilt gönnerhaft Jobs und damit soziale Sicherheit.

Stadt-Land-Gefälle

Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Parteien porträtiert ganz gut die Spannung in der bulgarischen Gesellschaft. Auslöser der Proteste im Vorjahr war schließlich ein Video, das den Politiker Hristo Iwanow von Demokratisches Bulgarien zeigte, als er von einem öffentlichen Strand an der bulgarischen Schwarzmeerküste in der Nähe von Burgas von privaten Sicherheitsleuten vertrieben wurde. Dieser Strand befindet sich neben der Luxusvilla von Ahmed Dogan, der offensichtlich die Nutzung des Strandes durch Bürgerinnen und Bürger verhindern wollte. Nach der Veröffentlichung dieses Videos versuchten hunderte Menschen zu dem Strand zu gelangen. Doch obwohl es sich um öffentliches Eigentum handelt, riegelte die Polizei das Gebiet ab. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Und dann folgten wochenlange Demonstrationen.

Die Geschichte zeigte, wie sehr sogar die Polizei von den Klientelparteien gesteuert ist. Deswegen könnten die nächsten Jahre spannend werden. Demokratisches Bulgarien hat die Zusammenarbeit mit der Gerb vor den Wahlen ausgeschlossen. Doch auch eine Expertenregierung muss von einer Mehrheit der Abgeordneten im Parlament gewählt werden. (Adelheid Wölfl, 5.4.2021)