Der Regisseur und Dokumentarfilmer Jakob Brossmann meldet sich in der "Lovemobil"-Debatte zu Wort. Im Gastkommentar tritt er für einen transparenteren Umgang mit Fiktionalisierungen im Dokumentarfilm ein.

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Dziga Vertov wollte das Leben zeigen, wie es ist: Szene aus "Der Mann mit der Kamera" (1929).
Foto: Picturedesk / Courtesy Everett Collection

Die Auseinandersetzung um Lovemobil von Elke Lehrenkrauss hat die Frage um die Ethik des Dokumentarischen in den letzten Tagen in die Feuilletons des deutschsprachigen Raums getragen. Der Film über Prostitution an der deutschen Landstraße hat unzählige Preise gewonnen, darunter den Deutschen Dokumentarfilmpreis.

Eine Recherche des NDR-Formats Strg_F hatte ergeben, dass viele Szenen im Film nachgestellt und einige Protagonistinnen und Protagonisten immer von Laien dargestellt worden waren, die nicht mehr oder gar nicht in der Prostitution gearbeitet hatten. "Dokumentarfilm gefälscht?" und "Fake-Doku?" sind die in der Schlagzeile rhetorisch aufgeworfenen Fragen.

Regisseurin Lehrenkrauss erklärte, dass sie zum Schutz der Prostituierten gehandelt habe, als sie nach langer Recherche und vielen Drehtagen entschied, wesentliche Passagen mit Stellvertreterinnen und Stellvertretern zu erarbeiten. Dass sie so auch Situationen erfahrbar machen konnte, die sonst niemals erfassbar gewesen wären, war ein weiterer Beweggrund.

Fehlende Transparenz

Viele erfahrene Menschen aus der Dokumentarfilmwelt stoßen sich nicht an dieser Arbeitsweise, betonen jedoch, dass Lehrenkrauss zur Offenlegung und Transparenz verpflichtet gewesen wäre. Unter enormem Druck der Öffentlichkeit hat sie sich bereits für diese fehlende Transparenz entschuldigt und als Fehler bezeichnet, die (extrem prekären) Produktionsprozesse offengelegt und einige Anschuldigungen widerlegt.

Doch in der medialen Verkürzung bleibt die Inszenierung das Problem. Die extrem emotional geführte Diskussion ist geprägt von "Fake-News"-Vorwürfen sowie dem immer wiederkehrenden Vergleich mit dem Betrugsfall Claas Relotius.

Schmaler Grat

Als Dokumentarfilmemacher, der sich dem "Direct Cinema" verpflichtet fühlt, setze ich in den meisten Projekten selbst keine Inszenierungen ein. Ich wünsche mir seit langem einen transparenteren Umgang mit Fiktionalisierungen im Dokumentarfilm – denn das Vertrauen des Publikums ist ein kostbares Gut. Die Auseinandersetzung mit dokumentarischer Ethik ist also begrüßenswert – doch die Debatte in ihrer gegenwärtigen Form droht Missverständnisse zu zementieren und völlig legitime Ausdrucksweisen des dokumentarischen Kinos zu diskreditieren.

Dokumentarfilm versteht sich als Kunst. Im Gegensatz zur Fernsehdokumentation oder zur journalistischen Reportage bewegt sich der Dokumentarfilm auf einem schmalen Grat, auf dem sich Kunst und Wahrhaftigkeit überschneiden. Es ist eine Selbstverpflichtung, die Welt mit Mitteln des Kinos so erlebbar zu machen, wie man sie in der Recherche und beim Dreh wahrnimmt. Und genau dafür braucht es den künstlerischen und handwerklich Zugriff – denn die Welt sträubt sich mit allen Mitteln.

"Wo das In-Szene-Setzen beginnt, ist alles andere als eindeutig."

Die Inszenierung ist für viele Künstlerinnen (Männer sind stets mitgemeint, Anm.) ein zentrales Werkzeug des dokumentarischen Kinos. Seit dem ersten Dokumentarfilm Nanook of the North besprechen Filmemacherinnen mit ihren Protagonistinnen die bevorstehende Szene, wobei der Übergang zwischen Absprache und Inszenierung ein fließender ist. Wo das In-Szene-Setzen beginnt, ist alles andere als eindeutig. Solche Eingriffe sind jedoch oft die einzige Möglichkeit, extreme Situationen überhaupt erfahrbar zu machen, die unter Anwesenheit eines Teams mit Kamera unmöglich, äußerst unwahrscheinlich oder gar gefährlich wären.

Diese Arbeitsweisen werden von vielen Kolleginnen mit Hingabe in Interviews und Publikumsgesprächen reflektiert, wenige haben sogar Wege gefunden, das innerhalb ihrer Filme offenzulegen. Die aktuelle Debatte zeigt jedoch, dass das Verständnis der Öffentlichkeit für dokumentarische Arbeitsweisen trotzdem hinter den Annahmen der Filmemacherinnen weit zurückbleibt – möglicherweise auch, weil sich in den letzten Jahren eine Kultur etabliert hat, die cineastische Intensität als höchsten Wert betrachtet. Lovemobil ist da kein Einzelfall, sondern ein hochpolierter Vertreter eines neuen Trends, dessen Ursprung nicht einfach zu erklären ist.

Spiel mit "Genregrenzen"

Auf der einen Seite werden Dokumentarfilme in Inkubatorprogrammen zur Marktreife entwickelt. Schon im Vorfeld wird von Redakteurinnen aussortiert, was spektakulär genug ist, was genug Erzählwert, genug Konflikt und genug Schauwert verspricht. Vieles davon führt tatsächlich zu besseren und "schöner" geschnittenen Filmen – die letztendlich auf den "Markets" der Festivals um die Gunst der Käuferinnen kämpfen. Als Ware. Zarte, fragile Projekte, die sich den Unzulänglichkeiten der Welt aussetzen, haben da wenig Chancen.

Auf der anderen Seite schwoll der Chor derjenigen an, die das Spiel mit den "Genregrenzen" lobten und suchten. Begleitet von der schicken Theorie, dass es eigentlich gar keinen Dokumentarfilm gäbe, ohnehin nur "Filme". Im Glauben, damit die Avantgarde aufzuwerten, wurde von manchen Festivaldenkerinnen gleich die Kategorie "Dokumentarfilm" als Ganzes verworfen. Der Einwurf, das Publikum hätte ein Recht zu wissen, was es da eigentlich gerade sähe, wurde weggewischt. Kleingeistig, wenig kunstsinnig. "Die Wahrheit" gäbe es ohnehin nicht, das Publikum sei ja auch nicht blöd und wisse schon, dass es sich hier um eine künstlerische Annäherung an die Welt handle.

Die Verantwortung vieler

Die Überlagerung dieser beiden Phänomene entschuldigt Entwicklungen wie Lovemobil nicht, macht sie aber erklärbar und verdeutlicht, dass die Frage nicht durch die Beschuldigen einzelner Filmemacherinnen gelöst werden kann. Es ist die Verantwortung von Redakteurinnen, Fördererinnen, Theoretikerinnen, Produzentinnen, Kolleginnen und last but not least Festivalmacherinnen.

Der Dokumentarfilm muss sich – ähnlich wie der Qualitätsjournalismus in der Krise – selbst vermitteln und erklären. Es gilt, künstlerische Qualität mit Ergebnisoffenheit zu vereinbaren und dabei nach Transparenz zu streben (auch wenn diese niemals völlig erreicht werden kann oder muss). Denn die Wahrhaftigkeit des Dokumentarischen benötigt gegenseitiges Vertrauen – oftmals auch einen Vertrauensvorschuss. Wer sich darauf einlässt, wird mit poetischen, widerspenstigen, aufrüttelnden, berührenden filmischen Welterfahrungen belohnt. (Jakob Brossmann, 6.4.2021)