Im Sommer 2020 schlägt ein islamistischer Attentäter, getrieben von Hass auf Juden und Homosexuelle, in Graz sowohl Fensterscheiben der Synagoge ein als auch Schaufensterscheiben des Vereinslokals der Rosa-lila PantherInnen, der steirischen LGBT-Organisation. Im Strafverfahren gegen den Attentäter wird den Rosa-lila PantherInnen eine sinnvolle Akteneinsicht hartnäckig verweigert, während die Jüdische Gemeinde Graz volle Akteneinsicht erhält. Darüber wird jetzt das Oberlandesgericht Graz entscheiden.

Obwohl die Rosa-lila PantherInnen eine vollständige Aktenkopie beantragt hatten, erhielten sie von der Staatsanwaltschaft Graz nur drei (!) Aktenteile. Und sogar von diesen bloß drei Aktenteilen wurden zum Teil nur zusammenhanglos einzelne Seiten (!) aus Berichten und Vernehmungen kopiert, also ohne Information, wer diese Texte verfasst hatte und von wem sie stammten und wem sie wann übermittelt wurden, wer wann wo vernommen wurde und ob unterschrieben wurde und durch wen. Auch vom Beschuldigten erfuhren die Rosa-lila PantherInnen nur Name und Geburtsdatum, nicht aber beispielsweise die aktenkundigen Vorstrafen und polizeiliche Vormerkungen.

Vereinzelte und geschwärzte Seiten

Es fehlt auch die Aktenübersicht und der Anordnungs- und Bewilligungsbogen. Die Aktenübersicht ist quasi das Inhaltsverzeichnis eines Strafakts, aus dem ersichtlich ist, welche Aktenstücke er umfasst, ohne dass man aus der Aktenübersicht Inhalte der Aktenstücke erfahren könnte. Aus dem Anordnungs- und Bewilligungsbogen, und nur aus diesem, ist der Gang des Strafverfahrens ersichtlich, was in dem Verfahren also bisher geschehen ist. Ohne Aktenübersicht und ohne Anordnungs- und Bewilligungsbogen kann ein Opfer nicht einmal prüfen, was es erhalten hat (wozu die vereinzelt kopierten Seiten gehören könnten), was es nicht erhalten hat, ob es alles erhalten hat, was es erhalten sollte und wie das Verfahren bislang verlaufen ist und wie der aktuelle Verfahrensstand ist (insbesondere auch hinsichtlich der gegen ihn gerichteten Tat und seiner Ansprüche).

Eine Woche nach der Tat haben außerdem zwei Polizeibeamte in Zivil das Vereinslokal Rosa-lila PantherInnen aufgesucht, haben Spuren gesichert und mit Vertretern der Organisation gesprochen. Davon findet sich nichts in den übermittelten Aktenteilen. Den Rosa-lila PantherInnen wird jede Information aus den Akten vorenthalten, wie die Behörden den Attentäter ermittelt hatten.

Zudem sind in den übermittelten rudimentären Aktenteilen sämtliche Namen von Beamten (nicht etwa des Verfassungsschutzes, sondern bloß) des Stadtpolizeikommandos geschwärzt. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme in Aktenkopien für das Opfer (!) erschließt sich nicht. Mangels Notwendigkeit ist dies unzulässig.

Die Schaufenster des Vereinslokals der Rosa-lila PantherInnen wurden vergangenen Sommer eingeschlagen.
Foto: RosaLila PantherInnen

Keine Information über das Verfahren

Diese Beschränkung des Opfers auf eine derart vereinzelte und fragmentierte, ja geradezu "zerfledderte" und "dürre" Aktenabschrift ist mit den Grundrechten des Opfers unvereinbar. Opfern von Straftaten kommt nämlich nach der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht auf eine wirksame, umfassende und erschöpfende Untersuchung und auf wirksame Strafverfolgung der Täter zu (Art. 3, 5 und 8 EMRK sowie Art. 1 1. ZP EMRK).

In Fällen homophober Motive (Hasskriminalität) ist, wie beispielsweise auch bei rassistischen und religionsfeindlichen Motiven, überdies mit besonderer Sorgfalt, besonderem Eifer und besonderem Nachdruck zu ermitteln und sind alle zur Verfügung stehenden Beweisquellen maximal und bestmöglich auszuschöpfen. Werden Fälle homophober Gewalt genauso behandelt und untersucht wie alltägliche, gewöhnliche Fälle von Gewalt, sohin nicht mit Aufbietung besonderer Sorgfalt, besonderen Eifers und besonderen Nachdrucks, so käme dies einer staatlichen Duldung oder gar Billigung homophober Gewalt gleich und stellte eine gravierende Menschenrechtsverletzung dar (Art. 3, 5, 8, 14 EMRK) (EGMR: Identoba v Georgia 2015; M.C. & A.C. v ROM 2016; Beizaras & Leivickas v LIT 2020; Sabalic v Croatia 2021).

Wie soll ein Opfer homophober Hasskriminalität wie die Rosa-lila PantherInnen auch nur ansatzweise beurteilen können, ob diese grundrechtlichen Anforderungen in seinem Fall erfüllt sind, wenn es nur eine vereinzelte und fragmentierte, ja geradezu "zerfledderte" und "dürre" Aktenabschrift erhält?

Anhand der von der Staatsanwaltschaft übermittelten vereinzelten Kopien kann das Opfer nicht einmal beurteilen, was es erhalten hat und was nicht. Die Inhalte der Aktenstücke würde es aus der Aktenübersicht ohnehin nicht sehen. Opfern, denen Aktenstücke vorenthalten werden, haben zumindest das Fundamentalrecht zu erfahren, was ihnen vorenthalten wurde. Ohne diese Information wird ihnen das Recht genommen, wirksam zu begründen, warum konkrete vorenthaltene Aktenstücke nicht vorzuenthalten sind. Die Rosa-lila PantherInnen erfahren nicht einmal, was ihnen verweigert wird zu sehen. Ihnen wird jede sinnvolle Überprüfungsmöglichkeit genommen.

Beschuldigter und andere Opfer: Volle Akteneinsicht

Opfern kommt außerdem nach der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention das Grundrecht auf angemessene Sanktionierung des Täters zu. Zur Beurteilung, ob und welche Sanktion angemessen ist, und zur Leistung eines sinnvollen Beitrags hiezu im Strafprozess bedarf es jedoch eines gesamthaften Bildes des Beschuldigten, wofür es eine volle Akteneinsicht braucht, bezüglich aller Straftaten, die Gegenstand des Verfahrens sind.

Während der Beschuldigte und seine Verteidigung sowie auch die Opfer religiöser Hasskriminalität in voller, unbeschränkter Kenntnis des Akteninhalts am Ermittlungsverfahren teilnehmen und zu diesem beitragen können und in dieser vollen Kenntnis nach Anklage in die Hauptverhandlung gehen können, müssen sich die Rosa-lila PantherInnen mit einer "zerfledderten" und "dürren" Aktenabschrift begnügen, die sie nicht befähigt, in gleichem Maße wirksam und bedeutungsvoll zum Verfahren beizutragen und ihre Rechte zu wahren wie der Beschuldigte und andere Opfer. Ja, die sie sogar über den bisherigen Verfahrensgang und den aktuellen Stand völlig unwissend lässt. Das wahrt nicht die Grundrechte des Opfers homophober Hasskriminalität, sondern stellt geradezu dessen Verhöhnung durch die Strafjustiz dar (Art. 3 EMRK).

Gericht: Benachteiligung irrelevant

Schließlich hat die Jüdische Gemeinde Graz, was die Staatsanwaltschaft und das Landesgericht nicht bestreiten, eine vollständige Aktenkopie erhalten; inklusive all dessen, was die Taten gegen die Rosa-lila PantherInnen betrifft. Für die Staatsanwaltschaft und das Gericht ist das völlig in Ordnung.

Das Landesgericht für Strafsachen Graz hat den Einspruch wegen Rechtsverletzung abgewiesen. Eine weitergehende Akteneinsicht der Rosa-lila PantherInnen würde "das überwiegende schutzwürdige Interesse des Beschuldigten auf Geheimhaltung" verletzen, und die Benachteiligung gegenüber der Jüdischen Gemeinde Graz sei irrelevant, was keiner weiteren Begründung bedürfe. Die Rosa-lila PantherInnen dürften ohnehin den Erörterungen in der Hauptverhandlung beiwohnen.

Obwohl der Beschluss bereits am 16. November 2020 gefasst wurde (20 HR 224/20b), hat ihn das Gericht dem Opfer erst am 12. März 2021, und auch das erst nach Urgenz, zugestellt. Über die Beschwerde dagegen entscheidet nun das Oberlandesgericht Graz. Es bleibt zu hoffen, dass es den Opferrechten zum Durchbruch verhelfen und die Diskriminierung aufgrund von Religion und sexueller Orientierung feststellen und beenden wird.

Joe Niedermayer, Obmann der Rosa-lila PantherInnen, zeigt sich erschüttert über deren Behandlung durch die Staatsanwaltschaft und das Erstgericht. Zudem zeigt er einen weiteren Missstand auf: "Die Stadt Graz kündigte als Reaktion auf den Anschlag die Förderung queerer Bildungsprojekte für Religionsgemeinschaften, Schulen und Ausbildungszentren an. Wir warten bis heute und fühlen uns vergessen." (Helmut Graupner, 7.4.2021)