In Venezuela wurden Ausgangssperren und andere Anti-Corona-Maßnahmen teilweise gewaltsam durchgesetzt.

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London – Li Wenliang war wahrscheinlich eines der ersten Opfer der Maulkorbpolitik autoritärer Staaten in Zeiten der Corona-Pandemie. Der chinesische Augenarzt war einer von acht Medizinern, die bereits Ende 2019 vor der Lungenkrankheit in Wuhan warnten. Als er seine Kollegen per Nachrichten dazu aufforderte, im Kontakt mit Patienten Masken zu tragen, wurde er von der Polizei verwarnt – die chinesische Führung wollte ihn zum Schweigen bringen. Im Februar 2020 starb Li an den Folgen von Covid-19.

Doch China ist laut dem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International nicht das einzige Land, das im Zuge der Pandemie die Rechte der Bürgerinnen und Bürger einschränkte. Auf mehr als 400 Seiten sind die Rückschritte im vergangenen Jahr aufgelistet: unter anderem die steigende Gewalt gegen Frauen, Diskriminierungen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung oder eben Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Lange Liste

"Es hat viele Regierungschefs und Machthaber gegeben, die die Notsituation genutzt haben, um ihre Machtstellung auszubauen", sagt Österreichs Amnesty-Chefin Annemarie Schlack im Gespräch mit dem STANDARD. Die Liste sei lang, doch müsse man laut Schlack nicht gleich auf klassische Diktaturen schauen, sondern es reiche "der Blick ins Nachbarland Ungarn, wo Viktor Orbán mit einer Notfallgesetzgebung regiert und etwa die Medienfreiheit eingeschränkt hat", sagt Schlack.

Bei Verstößen gegen die Maßnahmen, die offiziell die Ausbreitung des Virus einschränken sollen, gingen die Sicherheitskräfte vieler Staaten nicht gerade zimperlich gegen Menschen vor. So wurden in Brasilien etwa in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres nach Amnesty-Recherchen mindestens 3.181 Personen durch Polizisten getötet. Das bedeutet durchschnittlich 17 Tote pro Tag. Und obwohl das südamerikanische Land auch zuvor schon wegen Polizeigewalt regelmäßig in den Schlagzeilen war, sind es 7,1 Prozent Todesfälle mehr als im Vergleichszeitraum 2019. Die meisten Opfer – nämlich fast 80 Prozent – waren Schwarze.

Schüsse auf Demonstranten

Auch in Venezuela, Nigeria oder Kenia starben dutzende Menschen durch Polizeigewalt im Zusammenhang mit Einsätzen im Zuge der Anti-Corona-Maßnahmen, und die politische Führung schränkte auch dort die Meinungsfreiheit ein. So verzeichneten die Expertinnen und Experten bei Amnesty in Venezuela allein in den ersten vier Monaten des Vorjahres mehr als 400 Attacken auf die Presse: Einschüchterungen, Verhaftungen und physische Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten weiteten sich aus.

Auch die Golfstaaten – bereits vor der Covid-19-Krise nicht für Meinungsvielfalt bekannt – gingen rigoros gegen von ihnen definierte Falschmeldungen im Netz vor. Laut Amnesty waren aber vor allem kritische Posts im Zusammenhang mit den staatlichen Pandemiemaßnahmen davon betroffen.

Und auf den Philippinen nutzte Präsident Rodrigo Duterte die Gesundheitskrise, um die Zivilbevölkerung noch mehr einzuschüchtern. Es werde jeder erschossen, der auf die Straße geht und demonstriert.

Amnesty-Chefin sieht auch Lichtblick

Aber obwohl sich die Brennpunkte der Menschenrechtsverletzungen weltweit vervielfacht und intensiviert hätten, interessierten sich laut Schlacks Einschätzung so viele Menschen wie schon lange nicht mehr für ihren Schutz: "Die Leute merken jetzt am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, wenn die Rechte beschnitten werden und und man sich nicht mehr frei bewegen kann", so die Amnesty-Chefin: "Und sie merken, wie sehr die Menschenrechte weltweit zusammenhängen." Dabei spricht sie die Covid-19-Impfungen an, bei denen ärmere Länder viel später zum Zug kommen: "Es ist erst vorbei, wenn es für alle vorbei ist." (Bianca Blei, 7.4.2021)