Der Alpenbockkäfer profitiert im Nationalpark Gesäuse vom Prozessschutz der Wälder: Umgestürzte Bäume bleiben einfach liegen und schaffen so einen einmaligen Lebensraum.

Foto: Toni Kerschbaumer

Das zu den steirischen Nördlichen Kalkalpen gehörige Gesäuse ist, was seine Tierwelt angeht, einer der am besten untersuchten Landesteile Österreichs. Das liegt unter anderem daran, dass Forschungen schon vor mehr als hundert Jahren anfingen, wodurch es zu vielen Tiergruppen weit zurückreichende Datensätze gibt.

Mit der geplanten Errichtung des Nationalparks begannen in den 1990ern umfangreiche Erhebungen, die bis heute anhalten: Auf dem Stand von vergangenem Herbst gab es mehr als 270 wissenschaftliche Arbeiten zur Wirbellosen-Fauna des Nationalparks. Besonderes Augenmerk liegt dabei oft auf den sogenannten Endemiten, also Arten, die nur in einem bestimmten Gebiet vorkommen. Immerhin gibt es im Gesäuse 230 endemische Pflanzen und Tiere.

Erst kürzlich wurde im Nationalpark Gesäuse das Kleine Mausohr entdeckt, eine vom Aussterben bedrohte Fledermausart, die in Österreich nur auf einem sehr kleinen Areal vorkommt. Die Art ist schwer zu finden, doch immer noch auffällig im Vergleich zu den meisten wirbellosen Tieren. Auch von diesen gibt es jedoch im Bereich des Nationalparks eine bemerkenswerte Vielfalt, die nun in einer aktuellen Studie detailliert erhoben wurde.

Indikator für Lebensraum

Biologinnen und Biologen des Instituts für Tierökologie und Naturraumplanung aus Graz haben die Artenvielfalt von sieben großen Gruppen erhoben: Weberknechte, Spinnen, Käfer, Wanzen, Zikaden und Schnecken. Dabei wurden Daten von vor und nach 1990 herangezogen. Das Untersuchungsgebiet umfasste neben dem Nationalpark, der vom Klimaschutzministerium unterstützt wird, auch das angrenzende Natura-2000-Gebiet "Ennstaler Alpen / Gesäuse".

Dass ausgerechnet diese für den Laien wenig klingenden Organismengruppen erhoben wurden, begründet Alexander Maringer, Fachbereichsleiter für Naturschutz und Forschung im Nationalpark Gesäuse, mit ihrer naturschutzfachlichen Bedeutung: "Das sind Indikatorgruppen, das heißt, wir kennen ihre Habitatansprüche und ihre ökologische Rolle und können anhand ihres Vorkommens – oder Fehlens – den Zustand der entsprechenden Lebensräume beurteilen."

33 Weberknecht-Arten

Das Ergebnis der Erhebung kann sich jedenfalls sehen lassen: Bei den Weberknechten fand man 33 Arten und damit knapp 70 Prozent des gesamtsteirischen Inventars (das sind 50 Prozent des gesamtösterreichischen Anteils), bei den Spinnen waren es 355 Arten und damit 55 Prozent der in der Steiermark nachgewiesenen Spezies (Gesamtösterreich: 34 Prozent).

Weberknechte gehören zwar wie die Spinnen zu den Spinnentieren und besitzen als solche acht Beine, unterscheiden sich aber von ihnen durch die fehlende sichtbare Trennung zwischen Vorder- und Hinterleib. Auch verfügen sie weder über Gift- noch Spinndrüsen. Die häufigste im Gesäuse gefundene Weberknecht-Art ist der nicht einmal zwei Millimeter große Schwarze Mooskanker (Nemastoma triste), der nur im Ostalpenraum vorkommt.

Mit knapp 300 Wanzen-Arten ist auch diese in der Öffentlichkeit wenig beliebte, aber ökologisch bedeutsame Gruppe im Nationalpark stark vertreten: Im gesamten Bundesgebiet sind rund 930 Wanzenarten nachgewiesen, in der Steiermark sind es 726. Weiters wurden 192 Zikaden-, 201 Laufkäfer-, 460 sonstige Käfer- und 110 Landschnecken-Arten gefunden. Insgesamt wurden 76.000 Exemplare von 1650 Arten erhoben, davon 299 Rote-Liste-Arten und 131 Endemiten.

Seltene Gebirgsschnecke

Zu den Besonderheiten zählen dabei ein Laufkäfer und eine Schnecke: So wurde die einzige alpine Schnecke Österreichs, die nur 1,5 Zentimeter große Zylinder-Felsenschnecke (Cylindrus obtusus), seit ihrer Entdeckung 1805 nur rund 250 Mal gefunden – ausschließlich in Österreich, im Gebiet zwischen den Hohen Tauern im Westen und dem Schneeberg im Osten. Sie liebt es nass und kalt, weswegen sie nur über 1500 Meter Seehöhe zu finden ist, wo sie Flechten, Algen und Moose vom Untergrund raspelt.

Ein weiterer Kältespezialist, der ein noch kleineres Gebiet besiedelt, ist der Steirische Nordostalpen-Blindkäfer (Arctaphaenops angulipennis styriacus): Er wurde vor 85 Jahren im Gesäuse entdeckt und seither nur selten gefunden. Der sechs Millimeter große, blinde Höhlenbewohner kommt einzig im Gebiet zwischen dem Nationalpark Gesäuse und dem Ötscher vor.

Relikt aus der Eiszeit

Wie bei den meisten anderen Endemiten des Gesäuses handelt es sich auch beim Nordostenalpen-Blindkäfer um eine Reliktart der letzten Eiszeit. "Diese Arten kommen einzig auf Berggipfeln vor, und dort oft nur an der Nordseite oder in kleinen Höhlen, wo es kalt genug für sie ist", sagt Maringer, "dementsprechend gefährdet sind sie durch die Klimaerwärmung, und wir können wenig machen: In den Gipfelregionen ist der Platz beschränkt, das lässt sich nicht ändern."

Erfreulicher verläuft die Entwicklung in den Wäldern des Gesäuses: Hier macht sich der seit 20 Jahren praktizierte Prozessschutz im Nationalpark bemerkbar, also der Umstand, dass keine Eingriffe in die natürliche Dynamik der Lebensräume erfolgen.

Durch die fehlende Entnahme von Holz bleiben umgestürzte Bäume liegen und erzeugen dabei einen Lebensraum, auf den neben diversen Vogelarten wie dem Schwarzspecht auch viele Insekten angewiesen sind, wie der auffällig hellblau gefärbte Alpenbock (Rosalia alpina) oder die perfekt an ihren Untergrund angepassten Rindenwanzen (Aradidae).

Dafür muss der Wald "unaufgeräumt" bleiben, was nicht jedem gefällt. "Man darf Nationalparks nicht mit Naturparks verwechseln", sagt Maringer. "Naturparks schützen die Kulturlandschaft, aber im Nationalpark geht es um die wilde Natur, und die braucht in erster Linie, dass der Mensch sich nicht einmischt." (Susanne Strnadl, 11.4.2021)