Motto einer Corona-Demo in Wien. Bekannt aus dem 1980er-Jahre-Trashfilm "Die City-Cobra".

Foto: Markus Sulzbacher

Am vergangenen Donnerstag tauchten in den frühen Morgenstunden Rechtsextreme am Ort des Terroranschlags in der Wiener City auf, entzündeten Bengalos und hinterließen beim Denkmal für die Opfer des 2. November ein Plakat und Flugzettel. Mit dieser Aktion versuchen Aktivisten aus dem Umfeld der Identitären, das islamistische Attentat, bei dem vier Menschen ums Leben kamen und 23 Personen zum Teil schwer verletzt wurden, einmal mehr für ihre Politik zu nutzen.

Dafür griffen sie auch die Kritik am schlichten Denkmal auf. So ist auf dem von ihnen hinterlassenen Plakat nicht nur von "Massenzuwanderung" und "Islamisierung" die Rede, es wurde auch ein "angemessenes Denkmal" gefordert. Tatsächlich wird das Denkmal von Wienern und Wienerinnen als zu klein und unwürdig betrachtet. Der zuständigen rot-pinken Stadtregierung war es hingegen wichtig, "zeitnah einen Ort des Gedenkens und der Trauer zu schaffen", wie es dazu auf Anfrage heißt.

Ihre Aktion können die Identitären jedoch nicht als Erfolg verbuchen. Zwar schicken sie Fotos von der Aktion an Medien, diese wurden aber nicht veröffentlicht, kaum ein Onlinemedium berichtete überhaupt. Lediglich Seiten aus dem Umfeld der Identitären brachten Artikel und die Fotos – neben den einschlägigen Telegram-Channels.

Eine auf Medienshows ausgerichtete Politik

Das zeigt, dass die auf Medienshows ausgerichtete Politik der Identitären nicht mehr funktioniert. Für sie ist jede Berichterstattung – auch kritische – ein Segen. Jeder Artikel und jeder Auftritt im Fernsehen oder Radio hilft, die Bekanntheit der Gruppe und ihrer Ideologie zu steigern. Das spricht Interessierte an und bringt Gönner dazu, Geld zu spenden. Es ist bemerkbar, dass Medien sorgsamer über die Identitären und deren Parallelorganisationen schreiben, die Gruppe und deren Aktionismus werden eingeordnet, die von ihnen inszenierten Fotos nicht mehr verwendet. "Zwischen uns und der Presse gibt es keine Konvenienz mehr", schrieb Identitären-Sprecher Martin Sellner erst vor wenigen Wochen in einem Beitrag für das Onlinemagazin des extrem rechten Ideologen und Strippenziehers Götz Kubitschek.

Dazu kommt, dass Sellner sein Zentralorgan, seinen wichtigsten Lautsprecher, verloren hat. Er wurde im vergangenen Jahr auf der Plattform Youtube gesperrt, und ein Comeback ist nicht in Sicht. Nach der Stilllegung im Juli 2020 ging er juristisch dagegen vor – vergebens. "Die Angelegenheit ist ausjudiziert", schrieb das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) am vergangenen Montag dazu auf Twitter. Ein Mitarbeiter hatte zuvor zu Sellners Videos in Zusammenhang mit dem Verfahren Stellung genommen. Google begründet die Sperre mit einem Verstoß gegen seine Richtlinien gegen Hassrede.

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zum Deplatforming von Martin Sellner.

Für Sellner ist dieses Deplatforming mehr als eine juristische Niederlage. Seine Videos über einen angeblichen "Bevölkerungsaustausch" oder seine Tiraden gegen Geflüchtete wurden regelmäßig von zehntausenden Zuschauern gesehen. Mit seinen Videos trat der 32-Jährige quasi auch in Kinder- und Jugendzimmern auf. So kam es bei seinen öffentlichen Auftritten vor, dass er von männlichen Teenagern um ein gemeinsames Selfie gebeten wurde. Die Sperre auf Youtube hat den Aktionsradius von Sellner massiv eingeschränkt. Laut eigenen Angaben werden Videos, die er bei anderen Plattformen veröffentlicht, nur mehr von rund zehn Prozent der einstigen Youtube-Seherschaft verfolgt.

Auch andere Plattformen wie Twitter und Tiktok haben den 32-Jährigen im vergangenen Jahr gesperrt. Facebook hat Identitäre bereits im Jahr 2019 vor die Tür gesetzt. Mittlerweile verfügt er nur mehr auf dem Messaging-Dienst Telegram über eine nennenswerte Gefolgschaft. Dort gelingt es Sellner allerdings nur schwer, Themen zu setzen und Kampagnen zu starten.

Wichtig für die permanente Spendensammlung

Dazu kommt, dass Sellner Youtube und andere Plattformen nutzte, um Spenden für sich und die Identitären zu sammeln. In einem guten Monat kamen so rund 10.800 Euro zusammen, derzeit bekommt Sellner monatlich mindestens 1.600 Euro von Gönnern, wie aus von ihm selbst veröffentlichten Zahlen hervorgeht.

Diese Spenden sorgen in der rechtsextremen Szene für Unmut. Für die Gruppierung rund um den Blog "Unwiderstehlich", die aus ihrem Neonazismus keinen Hehl macht, sind Sellner und die Identitären "eine patriotische Bettelmafia". In einem Interview, das auf der Homepage der deutschen Kleinstpartei "Der III. Weg" veröffentlicht wurde, werden die Identitären als "Spielzeug von Personen, die für eine Karriere in der FPÖ zwar charakterlich verkommen genug wären, aber zu ungeduldig waren und die heute unter vielerlei Organisationsnamen ihr Leben durch Spenden sammeln bestreiten", bezeichnet. Die Identitäre Bewegung werde "zwar die Geldbörse ihrer Führer füllen, politisch in unserem Sinne ist sie bedeutungslos".

Das Interview ist ein Beleg dafür, wie stark der Konkurrenzkampf zwischen den Gruppierungen ist. Dazu kommt, dass Sellner vor Jahren selbst bei einer Neonazi-Gruppe rund um den seit Jahrzehnten aktiven Gottfried Küssel aktiv war und seine ehemaligen Gefährten ihm gram sind, mit den Identitären ein eigenes Projekt mit auf die Beine gestellt zu haben. Tatsächlich war Sellner über Jahre ein Gesicht des modernen Rechtsextremismus in Österreich und zeitweise auch Deutschland.

Gottfried Küssel (mit Megaphon) führte am 13. Februar eine Corona-Demo an.
Foto: Markus Sulzbacher

Küssel sieht in Seller einen "Selbstdarsteller". In einem Interview aus dem Jahr 2019 bezeichnet er den Aktivismus der Identitären zwar als gut, geht aber davon aus, dass die Bewegung wieder von der Bildfläche verschwinden werde, da sie auf falsche ideologische Grundlagen baue und das Projekt mit Sellner "steht und fällt". Küssel geht davon aus, dass viele Aktivisten dann ein neues Betätigungsfeld suchen würden.

Konkurrenz bei den Corona-Demos

Aktuell treten Neonazis, darunter auch Personen aus dem Umfeld von "Unwiderstehlich", und Identitäre bei Corona-Demonstrationen in Erscheinung. Beide Gruppen bieten anderen Teilnehmern ihr Know-how an. So tragen Aktivisten und Aktivistinnen der Identitären "Kurz muss weg"-Transparente, verteilen Propagandamaterial und sammeln Spenden, während Neonazis vor Ort erklären, wie Polizeisperren umgangen werden können. Im Netz verbreiten sie Rechtshilfetipps und Videos, die erklären sollen, was bei brenzlichen Situationen auf Demos zu tun sei.

Martin Sellner und Identitäre auf einer Corona-Demo in Wien.
Foto: Markus Sulzbacher

Organisatoren der Demonstrationen, wie der Kärntner Martin Rutter, teilen Beiträge der Identitären auch auf ihren Social-Media-Accounts. Auffällig ist, dass er und viele andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen kein Problem damit haben, gemeinsam mit bekannten Neonazis und Identitären zu marschieren. Dies war auch schon bei der ersten Corona-Demonstration in Wien, im April 2020, bemerkbar, an der Sellner bereits teilnahm.

Auf den "großen Austausch" folgt "The Great Reset"

Um besser im Teich der Corona-Skeptiker und -leugner fischen zu können, haben die Identitären beziehungsweise deren Parallelorganisation "Die Österreicher" eine neue Verschwörungserzählung: Auf den "großen Austausch" folgt "The Great Reset". Dabei handle es sich um den Plan "globaler Eliten" für eine Welt nach der Pandemie, in der die derzeitige Weltwirtschaftsordnung zurückgesetzt werde, also auf den Reset-Knopf gedrückt würde. Zudem solle eine "Weltregierung" errichtet werden, auch die Abschaffung der "Völker und Kulturen sowie von Selbstbestimmung und Demokratie" mithilfe von "Migration und Umverteilung" sei geplant.

Die Corona-Demos werden auch von Gegendemonstranten und Gegendemonstrantinnen zum Anlass genommen, auf die Straße zu gehen.
Foto: Markus Sulzbacher

Mehr ist darüber bei den Identitären nicht in Erfahrung zu bringen, dafür betonen sie auf Flugblättern und auf ihrer Homepage, dass es sich dabei um "keine Verschwörungstheorie" handle. Die Vollversion der Erzählung, die weltweit bei Corona-Leugnern umgeht, ist auf anderen Telegram- und Youtube-Channels zu finden. Dort heißt es etwa, "globale Finanzeliten" und Politiker hätten das Coronavirus absichtlich freigesetzt, um so ein totalitäres Regime nach ihren Vorstellungen einzuführen.

Einige Körnchen Wahrheit

Unfreiwilliger Namensgeber ist das Weltwirtschaftsforum (WEF), das jährlich in der Schweiz stattfindet und bei dem sich reiche Persönlichkeiten, Journalisten und Journalistinnen sowie Vertreter und Vertreterinnen von Staaten und Wirtschaft treffen. "The Great Reset" war die Überschrift eines Vorschlags des Weltwirtschaftsforums aus dem Mai 2020, der einen sozialeren Kapitalismus im Anschluss an die Covid-19-Pandemie forderte. Ergänzend hat WEF-Chef Klaus Schwab ein Buch mit diesem Titel herausgebracht, für die deutschsprachige Aussage wurde der Titel mit "Der große Umbruch" übersetzt. Darin tritt Schwab dafür ein, dass Volkswirtschaften den Weg "einer gerechteren, grünere Zukunft" gehen sollen. Umweltinitiativen, Technologie und Wissenschaft sollen gefördert, Einkommensunterschiede beseitigt werden und Jobs in den Bereichen Bildung, Pflege und Gesundheit entstehen. Allesamt Vorschläge, die in Europa von linken und grünen Parteien sowie Gruppierungen seit Jahrzehnten zu hören sind und auch schon bei Treffen des WEF gemacht wurden.

Ein Transparent der Identitären-Parallelorganisation "Die Österreicher".
Foto: Markus Sulzbacher

Tatsächlich ist es der Titel "The Great Reset", der aktiviert und mit dem auch viel assoziiert werden kann. Er passt zur Vorgängererzählung "Der große Austausch": eine krude Geschichte darüber, wie angeblich finstere Mächte das weiße beziehungsweise deutsche Volk durch Geflüchtete und Migranten und Migrantinnen ersetzen. Diese zentrale Erzählung der Identitären dürfte nun überholt sein. (Markus Sulzbacher, 8.4.2021)