Sexualbegleitung soll Älteren und Menschen mit Behinderung helfen, ihre Sexualität zu leben.

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Wenn Angie die Wohnung eines Neukunden betritt, muss sie ihr Gegenüber zuerst beruhigen. "Ich bin wirklich aufgeregt", sagte unlängst wieder ein Mann zu ihr. Obwohl dem ersten Treffen SMS oder Anrufe vorangehen, Wünsche und Bedürfnisse schon ausgetauscht werden, ist es etwas anderes, wenn Angie plötzlich in der Küche steht. "Da bin ich auch noch immer nervös", sagt die 50-jährige Sexarbeiterin und lacht. So verlief es auch bei ihrem Kunden Klaus, 64, der außerhalb von Zeitschriften oder Internet noch nie eine nackte Frau gesehen hat. Als sie zu ihm kam, sagte sie, dass sie die Liebesdienerin sei, "mich darfst du anfassen", aber: "Nur mich, bei der Pflegerin passt das nicht."

Ihre Arbeit führt sie quer durch Wien, Oberösterreich und die Steiermark in kleine Wohnungen, in Einfamilienhäuser oder Einrichtungen. Auch die Dienstleistungen, die sie anbietet, könnten nicht unterschiedlicher sein: Sie reichen von erotischen Massagen über energetische Behandlungen bis hin zum Geschlechtsverkehr. Ihren erlernten Beruf, jenen der Schaufenster-Dekorateurin, hat Angie vor 30 Jahren an den Nagel gehängt. "Ich habe immer gerne mit Menschen gearbeitet", sagt sie zu ihren Beweggründen, damals in die Sexarbeit eingestiegen zu sein.

Die Sehnsucht nach Körperkontakt

Allerdings ist Angie nicht nur Sexarbeiterin. Seit ein paar Jahren unterstützt sie auch ältere Menschen dabei, ihre Körper zu entdecken und Sexualität zu erleben. Der Gedanke, der hinter der Sexualbegleitung steht, ist, dieser Zielgruppe zu ihrem von der WHO deklarierten Recht auf sexuelle Gesundheit zu verhelfen – also Menschen mit Behinderungen und Älteren, denen gesellschaftlich noch allzu gern sexuelle Bedürfnisse abgesprochen werden. Das kann – je nach Kunde – über Massieren, Berühren, Festhalten, Hilfe beim Masturbieren oder Geschlechtsverkehr passieren. "Oft geht es dann gar nicht um klassischen Sex", sagte Angie, viele Menschen seien einfach unglaublich einsam und sehnen sich nach Körperkontakt.

Als Referentin teilt Angie seit Oktober 2020 ihr Wissen im Lehrgang "Sexualassistenz" mit anderen: Von der Volkshilfe Wien und Sophie, einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen, ins Leben gerufen, greifen der Kurs ein weitverbreitetes Tabu auf. Expertinnen und Experten vom Fach vermitteln in diesem sechstägigen Lehrgang theoretische und praktische Grundlagen – von Krankheitsbildern potenzieller Kunden bis hin zum Umgang mit Behörden und Einrichtungen. Der Lehrgang, der rund 600 Euro kostet, richtet sich als Fortbildungsangebot an Sexarbeiterinnen und Interessierte. Zehn Frauen und ein Mann haben ihn bereits absolviert. Mitte April startet der nächste.

Wie hoch ist aber der Bedarf an Sexualassistenz wirklich? Hört man sich bei Menschen vom Fach um, so ähneln sich meist die Antworten: "Bei manchen Menschen ist es oft die Sehnsucht nach einer Beziehung", sagt der Psychologe Wolfgang Kostenwein vom Österreichischen Institut für Sexualpädagogik, diese könne die Sexualbegleitung nicht abdecken. "Aber der Bedarf an Zuwendung ist trotzdem groß, gerade bei Menschen mit Behinderung und Senioren." Viele würden daher das Angebot sehr schätzen, sagt Kostenwein, der selbst im Lehrgang referiert. "Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist ein großes Thema", sagt auch Albert Brandstätter, ehemaliger Generalsekretär der Lebenshilfe und Inklusionsexperte. Weil es wenige Studien gebe, sei es schwer, den tatsächlichen Bedarf festzustellen, "aber er ist auf jeden Fall gegeben", sagt Brandstätter. Dabei sei es besser, ein qualitativ gesichertes Angebot zu bieten, als gar keines.

Lange Zeit im rechtlichen Graubereich

Neu sind Ausbildungen wie jene von Volkshilfe und Sophie jedenfalls nicht: Bereits 2008 erkannte die steirische Organisation Alpha Nova die Lücke in der sexuellen Versorgung von Menschen mit Behinderung. Sie bot eine Ausbildung zur Sexualassistenz an, die rund 18 Absolventinnen und Absolventen hervorbrachte. Mit einem Unterschied: Man wollte stets eine klare Trennlinie zur Sexarbeit ziehen. Bei den Begleitungen kam es weder zu Sex oder Oralverkehr noch zu Zungenküssen – das Angebot umfasste erotische Massagen und Anleitungen zur Selbstbefriedigung. Das hatte auch rechtliche Gründe.

Denn lange Zeit galt Sexualbegleitung nicht als Teil der Sexarbeit. Ab dem Jahr 2017 wollte das Prostitutionsgesetz bei der Frage, ob Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden oder nicht, keinen Unterschied mehr machen: Auch Menschen dabei zu helfen, die eigene Sexualität zu erleben, befand ein Arbeitskreis, würde unter das Prostitutionsgesetz fallen. In der Praxis bedeutete das: Polizeiliche Registrierung, Untersuchung, grüne Karte ("Deckel") und regelmäßige Gesundheitskontrollen. "Vielen war das zu aufwendig", sagt Alpha-Nova- Bereichsleiterin Anna Obernosterer, "außerdem wollten sie keine Sexarbeiterinnen sein." Das Stigma der Prostitution schreckte nicht nur sie ab, auch die Fördergeldgeber, darunter das Land Steiermark, bekamen kalte Füße. Alle Begleiter, außer einer Frau, legten die Arbeit nieder. Die Ausbildung musste eingestellt werden.

Sexualbegleitung als Teil der Sexarbeit

Was bei der einen Organisation zum Aus führte, griffen letztlich die Volkshilfe und Sophie mit ihrem Lehrgang neu auf: "Für uns hat sich herauskristallisiert, dass Sexualbegleitung Teil der Sexarbeit ist", sagt die Wiener Volkshilfe-Geschäftsführerin Tanja Wehsely, und diese gehöre eben aufgewertet. Mit der Begleitung, so sagt Wehsely, könnten sich künftig zusätzliche Verdienstmöglichkeiten für Sexarbeiterinnen auftun. Wie wichtig diese wäre, zeigt sich nicht zuletzt an der prekären Situation der Sexarbeiterinnen, denen aufgrund der Corona-Pandemie der Lebensunterhalt weggebrochen ist. Zählte Wien im Dezember 2019 noch 3.063 Sexarbeiterinnen und 76 Sexarbeiter, schrumpfte die Anzahl Ende 2020 auf 2.658 Frauen und 71 Männer.

Allerdings blieb auch der neue Lehrgang nicht von Corona verschont: "Bis jetzt kamen erst wenige Anmeldungen rein", sagt Sexualbegleiterin Angie. Sie sieht den Grund in dem derzeitigen De-facto-Berufsverbot. Bereits vor dem Lockdown, so sagt die 50-Jährige, waren die Einrichtungen sehr verunsichert und wollten lieber nichts riskieren. Angie führt selbst seit Monaten nur noch Hausbesuche bei ihren Kunden durch. Mit der aktuellen Covid-19-Verordnung sind auch diese bis auf weiteres untersagt.

Der gefürchtete "Kuppeleiparagraf"

Grund zur Unsicherheit bietet aber auch der rechtliche Rahmen, in dem sich die Sexualbegleitung bewegt: Auch zu Prä-Corona-Zeiten zögerten Altersheime oder Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, die Angebote anzunehmen. Das hängt vor allem am "Kuppeleiparagrafen", der das "Verleiten zur geschlechtlichen Handlung" unter Strafe stellt. Was in der Theorie als Schutz vor Missbrauch zu deuten ist, führt in der Praxis dazu, dass Mitarbeiter oft nicht wissen, was sie rechtlich überhaupt dürfen. Auch wenn die "Willensbeeinflussung" dabei eine zentrale Rolle spielt, "die Unsicherheit beim Personal ist trotzdem groß", sagt Angie. Bundesländer wie das Burgenland und Niederösterreich gehen einen Schritt weiter: Dort dürfen Sexualbegleiterinnen aufgrund der länderabhängigen Prostitutionsgesetze gar nicht in Einrichtungen. "Trotzdem erreichen mich ich öfter Anrufe", sagt Angie, "weil der Leidensdruck der Bewohner oft so groß ist."

Auch der finanzielle Aspekt stellt für viele eine Hürde dar: Angie verlangt für eine Stunde 150 Euro, für zwei 250. "Bei Menschen mit Erwachsenenvertretung ist das sehr heikel", sagt Wehsely von der Volkshilfe, diese müssten ja letztlich das Geld lockermachen. Und einsehen, dass ihren Angehörigen mit der Sexualbegleitung mehr geholfen ist als vielleicht mit einem neuen Haarschnitt oder einer Pediküre, sagt sie. "Auch da kommen die Tabus zum Vorschein." Angie hofft, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Sexualbegleitung rasch zunimmt, den Grundstein sieht sie mit diesem Angebot nun gelegt. Ein Kunde von ihr, dem sie vom Lehrgang erzählt hatte, sah in ihrem Engagement für den Lehrgang sogar etwas Karitatives. Um gleich ein weiteres Klischee abzuwenden, konterte sie scherzend: "Bitte komm jetzt nicht auf den Gedanken, dass ich eine heilige Hure bin." (Elisa Tomaselli, 8.4.2021)