"Kann es sein, dass Anständigkeit und Anstand, Verantwortungsgefühl und Sozialkompetenz gar keine Rolle spielen?", fragt Renate Graber im STANDARD angesichts der sich in den Chats von Immer-noch-Öbag-Chef Thomas Schmid offenbarenden Schamlosigkeit bei Postenschacher und Machtmissbrauch. Eine kaum widerlegbare Kritik, die mir nur im Punkt "Sozialkompetenz" zu streng erscheint. Selbige kann sich nämlich auch im Engagement für Außenseiter der Gesellschaft zeigen. Zum Beispiel für Manfred Juraczka, den personalisierten Tiefpunkt in der Geschichte der Wiener ÖVP, der einst seiner Partei mit 9,2 Prozent das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten beschert hat. Seither gilt er als politischer Sozialfall, der bei Schmid ein Aufwallen von Barmherzigkeit ausgelöst haben dürfte. Übermannt von diesem Gefühl schreibt er an Gernot Blümel: "Kannst Du mir bitte die Nummer von Juraczka geben. Wegen Job!" Und er schreckt dabei auch vor einer Herkulesaufgabe nicht zurück: "Wir rufen ihn an um herauszufinden, was er kann."

Immer-noch-Öbag-Chef Thomas Schmid.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Der Finanzminister antwortet einfühlsam: "Danke! Bitte sei lieb zu ihm", woraufhin Schmid zurückschreibt: "Ich bin nur zu Dir lieb!"

Spätestens hier zeigt sich, dass es in diesen Konversationen nicht nur um Postenschacher und Machtmissbrauch geht, sondern auch um etwas ganz anderes: um große Gefühle. Diese werden vor allem von Blümel an Schmid oft mit zärtlicher Poesie formuliert: "Was würden wir ohne Dich machen, Du bist eine echte Stütze. Du bist Familie. Und wir alle brauchen Dich." "Devote Liebe kann auch nett sein."

Devote Liebe

Diese nette Spielart der devoten Liebe prägt auch Schmids Botschaften an Sebastian Kurz: "Dich zu haben ist so ein Segen! Danke Dir total dafür", "Dass du mir diese Chance gibst mich zu beweisen, ist so grenzgenial", "Danke für alles und es taugt mir so in deinem Team sein zu dürfen", "Ich bin so glücklich", "Ich liebe meinen Kanzler".

Auch in anderen Nachrichten findet Schmid immer wieder Worte von melodramatischer Qualität: "Großes Kabinettsdrama bahnt sich an", "Sebastian will mich nicht gehen lassen", "Du bist der erfolgreiche Investment Guy. Und ich bin ein Galeerensklave", "So ein widerlicher Kerl", "Er ist echt falsch. Aber leider schlecht falsch", "Es wird Zeit für neue Ufer".

Das erinnert an Dialoge der Fernsehserie Reich und schön, die im Original The Bold and the Beautiful heißt. Ein Titel, der in der Übersetzung von "bold" als "dreist" und "unverschämt" die schmierige Seifenoper um die Bestellung Schmids zum Öbag-Chef präzise beschreibt. Und wie bei einer Daily Soap gilt auch für die Schmid-Chats: Fortsetzung folgt.

Dass wir diese Fortsetzung mit Spannung erwarten dürfen, dafür sorgen jetzt schon Cliffhanger-Zitate Schmids wie "Dichands sind ja gut auf Schiene" (an Kurz) oder "Dichand und ich haben Flug gebucht" (an Blümel) und natürlich seine vielversprechende Zukunftsvision "Wenn das in die Hose geht, sind wir hin".

Noch unbeantwortet ist die Frage, ob Thomas Schmid am Ende nur eine Fußnote in der Geschichte der ÖVP gewesen sein wird. Wahrscheinlicher als "Fußnote" erscheint mir etwas ihm Entsprechenderes, nämlich das "Popotschi-Emoji". (Florian Scheuba, 8.4.2021)