Tausende Lateinamerikaner haben in Zeiten der Pandemie versucht, die Grenze zu den USA zu überqueren. Sie hoffen auf ein besseres Leben im fremden Land.

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"Move" heißt das neue Buch des indisch-amerikanischen Politikwissenschafters Parag Khanna, in dem er ein neues Jahrhundert der globalen Migration beschwört. Schreckensszenario sei das keines, betont er, sondern vielmehr eine Anpassung an den Klimawandel und die Nachfrage nach Arbeitskräften. Mit der richtigen Politik können einige Länder in Zukunft von dieser Entwicklung profitieren, ist er überzeugt.

STANDARD: Herr Khanna, Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben. Was ist heute anders?

Khanna: Klar, es hat immer verschiedene Triebkräfte für Migrationsbewegungen gegeben, etwa die kleine Eiszeit in der späten Renaissance, die Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert und den Kolonialismus. Der Unterschied zu heute und den letzten Jahrzehnten ist, dass noch nie so viele verschiedene Triebkräfte in verschiedenen Wechselwirkungen aufeinanderprallten. Dazu gehören etwa die Vergreisung der Bevölkerung wie zum Beispiel in Europa, die anhaltenden politischen Unruhen, die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen durch die Automatisierung und nicht zuletzt der Klimawandel, der immer schlimmer wird. Wir haben diese Probleme alle auf einmal.

STANDARD: Im Moment befindet sich die Welt aufgrund der Corona-Pandemie eher im Ruhemodus. Widerspricht das nicht Ihrer These vom neuen Zeitalter der Migration?

Khanna: Statistisch hat das neue Zeitalter der Migration schon längst begonnen. 2019 haben wir den Rekordzustand von 1,5 Milliarden Reisenden und 275 Millionen im Ausland lebenden Menschen erreicht. Die Frage ist nur, wann wir uns dem schon bestehenden Pfad wieder anschließen. Denn Corona hat die Migration nicht aufgehalten: Millionen von Gastarbeitern sind in ihre Heimatländer zurückgezogen – auch das ist eine Form der Migration. Die Reichen haben nie aufgehört, die Pässe zu wechseln und aus roten in grüne Zonen zu ziehen. Viele von ihnen haben sich mitten in der Pandemie an einem anderen Ort der Welt niedergelassen.

STANDARD: Das betrifft aber nur eine sehr kleine Gruppe.

Khanna: Nicht nur. Schauen Sie auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Seit der US-Wahl strömen hunderttausende Zentralamerikaner dorthin. Sie stehen Schlange an der Grenze, hoffen auf ein besseres Leben. Diese Bewegung hat unabhängig von der Pandemie schon längst begonnen.

STANDARD: Global gesehen: Wohin werden die Menschen ziehen?

Khanna: Migration von den USA nach Kanada wird sich beschleunigen, aus gesundheitlichen wie auch klimatischen Gründen. Es gibt Teile in den USA, den Südosten, wo der steigende Meeresspiegel schon sehr viele Menschen vertrieben hat. Kanada wird künftig eine noch größere Bevölkerung haben als Russland und Japan und eine demografische Supermacht werden. Südeuropäer werden vermehrt Richtung Nordeuropa ziehen. Wir sehen, dass Überschwemmungen und Trockenheit durch den Klimawandel immer mehr Menschen, vor allem in Asien, betrifft. Städte wie Jakarta und Bangkok könnten bald versunken sein. Auch deshalb werden immer mehr Südasiaten Richtung Zentralasien und Russland wandern.

STANDARD: Aber Migration ist komplex und schwer vorherzusagen. Viele Menschen, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, sind arm und haben wenig Mittel, überhaupt von ihrer Heimat wegzuziehen.

Khanna: Natürlich werden acht Milliarden Menschen nicht sofort auf dem Sprung sein. Mindestens vier bis fünf Milliarden Menschen werden ihre Heimat nie verlassen. Sie sind nach wie vor auf ihre Verwandten angewiesen, die im Ausland arbeiten und Geld nach Hause schicken. Aber durch die Digitalisierung lässt sich dieses Geld immer reibungsloser überweisen. Daher wird sich dieser Trend fortsetzen.

STANDARD: Warum sollten europäische Staaten, Russland oder Kanada Migranten bereitwillig aufnehmen? Boomt nicht schon jetzt der Populismus, der sich gegen "zu viel" Migration richtet?

Khanna: Wir stehen in Westeuropa kurz davor, den Populismus zu überwinden. Denn die Menschen sehen, was für eine versagende Politik die Populisten betreiben. In der politischen Geschichte gibt es kein Phänomen, das so kurzfristig ist wie der Populismus. Selbst Menschen wie Viktor Orbán in Ungarn werden bald weg sein. Denn das mächtigste Prinzip lautet immer noch Angebot und Nachfrage. Dagegen hat Populismus keine Chance. Kein Staatschef kann der Demografie und der älter werdenden Bevölkerung Europas ohne Migration entkommen. Was ist ein Staat ohne Menschen? Regelmäßig werden Abkommen geschlossen, Arbeitskräfte von anderen Ländern reinzuholen. Das ist tausendmal wichtiger als jeder Zaun, der an irgendwelchen kleinen Grenzen gebaut wird.

STANDARD: Aber Grenzen sind aufgrund der Pandemie gerade so real wie selten zuvor. Welche Rolle werden sie in Zukunft spielen?

Khanna: Ich bin für die Wahrung der Grenzen und für staatliche Souveränität. Die Frage ist, ob man pragmatischer damit umgehen kann. Ich sehe das am Beispiel Russlands: Natürlich ist das Land kein Kanada, was die Einwanderung betrifft. Aber es gibt viele Beamte und Bürgermeister im Land, die für mehr Einwanderung sind. Die brauchen die Arbeitskräfte, um etwa die Landwirtschaft anzustoßen. Die wollen in keinem gescheiterten Staat leben. Die Angst der Russen vor Einwanderern war vor zehn Jahren noch viel schlimmer. Man redet mittlerweile nicht mehr von der "gelben Gefahr", sondern von "Management". Wir sollten das Thema Migration so sehr entschärfen, dass es zu einem Verwaltungsthema wird.

STANDARD: Für viele Menschen hat Migration viel mit Integration, Werten, Kultur und manchmal auch gesellschaftlichem Konflikt zu tun. Wie können Staaten mit diesen Themen umgehen?

Khanna: Eine strenge und gute Einwanderungspolitik ist wichtig. Es geht nicht um die Anzahl der Menschen, die kommen, sondern um die Integrationsmaßnahmen. Die Sprache ist – wie ich selbst erfahren habe – das allerwichtigste Tor in die Kultur. Egal ob Gastarbeiter oder Flüchtling – jeder sollte sich im Gastland bemühen, sich anzupassen. Und jeder Staat kann entlang seiner eigenen Kultur bestimmen, an welche Regelungen sich Einwanderer halten müssen. Wir müssen einen Kompromiss finden zwischen den Werten der Länder, die es zu bewahren gilt, und der zunehmenden Migration. Das Thema sollte öffentlich diskutiert und nicht unter den Teppich gekehrt werden. Migration ist in den vergangenen 80 Jahren zum größten Teil friedlich verlaufen. Deshalb sollten wir auch mit den Schreckensszenarien aufhören.

STANDARD: In Ihrem Buch können Sie sich auch temporäre "Pop-up-Städte" als eine Möglichkeit vorstellen, mit den Veränderungen des Klimawandels umzugehen. Inwiefern?

Khanna: Ich stelle mir darunter nachhaltige, mobile Städte vor, die sich selbst mit Lebensmitteln, erneuerbarer Energie und Wasser versorgen. Diese könnte etwa in Sibirien entstehen, wo die Gefahr besteht, dass die Erde wegen des Schmelzens des Permafrostes einsinkt. Für die Mongolen wären solche mobilen Anlagen auch ganz schön. Auch an Orten, wo sich Gastarbeiter nur kurzfristig aufhalten, könnten die Städte schnell auf- und abgebaut werden. Vielleicht können sich damit viel mehr von uns eines Tages vorstellen, ein bisschen nomadischer zu leben.

STANDARD: Sie selbst sind schon des Öfteren zwischen den USA, Deutschland und Dubai umgezogen. Was bedeutet Heimat für jemanden, der so oft den Wohnort wechselt wie Sie?

Khanna: Ich kann niemand Besseren als den Schriftsteller Pico Iyer zitieren, der sagte: Heimat ist nicht nur ein Stück vom Boden, sondern ein Stück von der Seele. Am Ende ist Heimat dort, wo das Leben in Erfüllung gehen kann. (Jakob Pallinger, 10.4.2021)