Die Pandemie jetzt ohne harte Maßnahmen "durchlaufen" zu lassen wäre ein großer Fehler, sagt Ulrich Elling, Molekularbiologe von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Im Labor des IMBA werden Mutationen sequenziert. Das Repertoire des Virus ist zwar begrenzt, aber noch nicht ausgeschöpft.
Foto: APA / Roland Schlager

Ich habe die Pandemie so satt! Und so wie mir geht es auch all den anderen wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in engem Austausch stehe. Wir haben Familie, Freunde und Hobbys, wir sehnen uns nach der Ferne. Und so geht es doch allen in diesem Land, egal ob Corona-Leugner und Querdenkerinnen, Intensivmedizinerinnen, Hoteliers, Lehrerinnen, Jugendliche, internationale Mitbürger und Politikerinnen. Wir wollen einfach alle unser altes Leben zurück!

"Wir müssen noch durchhalten."

Auch wenn wir alle diesen Wunsch teilen, so führen verschiedene Lebensrealitäten und unterschiedliches Wissen zu anderen Schlussfolgerungen, wie wir dieses Ziel erreichen können und den Weg aus der Pandemie herausfinden. Viele übersehen dabei, wie weit wir schon gekommen sind: Wir haben das Virus in seiner Originalform durch Testen und soziale Isolation gemeinsam in den Griff bekommen. Wir alle haben sehr viel dafür gegeben, viel zu viele haben die Pandemie mit ihrem Leben bezahlt.

Leider hat uns die ansteckendere und leider auch gefährlichere "britische" Variante B.1.1.7 in den letzten Wochen auf diesem Weg wieder etwas zurückgeworfen. Deswegen müssen wir noch durchhalten, bis wir diese durch B.1.1.7 verursachte Pandemie 2.0 durch eine Mischung aus Sommer, Impfung und weiter ausgebautem Testen auch in den Griff bekommen.

Impfresistente Varianten

Was mir aber wirklich Sorgen macht, ist die Gefahr einer Pandemie 3.0, die uns wegen impfresistenter Virusvarianten droht. Als Wissenschafter, der seit Monaten die Mutationen in Sars-CoV-2 landauf, landab sequenziert, fürchte ich, dass solche neuen Varianten uns den Traum von Freiheit noch länger verwehren oder gar: eine neue schlimme Welle bringen könnten, obwohl wir geimpft sind.

Die Anzahl an Viren, die momentan weltweit im Umlauf sind, bringen es mit sich, dass leider immer weitere sogenannte Mutanten entstehen, also neue Varianten des Virus, die sich in ihrer genetischen Struktur, die einer langen Perlenkette ähnelt, geringfügig unterscheiden. Die Mutationen, von denen in den Medien die Rede ist, betreffen vor allem das Stachelprotein auf der Oberfläche des Coronavirus, mit dem das Virus sich einem Enterhaken gleich in die Zellen einschleust.

Gute Nachricht

Die Mutationen passieren immer wieder an den gleichen Stellen, wie wir bei der Sequenzierung von Viren von inzwischen 25.000 infizierten österreichischen Personen ablesen konnten. So etwa hat sich Position 501 der Perlenkette unabhängig in der "britischen", "südafrikanischen" und "brasilianischen" Mutante so verändert, dass eine ansteckendere Version des Virus entstanden ist.

Die gute Nachricht: Das Repertoire an Veränderungen von Sars-CoV-2 ist also ganz offensichtlich begrenzt. Wir werden die Impfungen, wenn nötig, anpassen können und das Virus so in die Ecke treiben. Am Ende gehen wir als Sieger vom Platz in einem Kampf, den wir als Gesellschaft gemeinsam gewinnen.

Pandemie 2.0 stoppen

Noch aber sind wir nicht so weit. Das Virus hat die Immunausweichmanöver durch Mutationen noch nicht ausgeschöpft. Zudem gibt es noch keine Impfstoffe der zweiten Generation. Bis dahin müssen wir alle alles daransetzen, die Pandemie 2.0 zu stoppen und die Pandemie 3.0 zu verhindern. Akut müssen wir deshalb die tragischen Zustände in unseren Krankenhäusern und das unendliche damit verbundene Leid durch einen weiteren Lockdown beenden. Das werden wir auch noch einmal schaffen, gemeinsam! Danach wird es besser, nicht zuletzt aufgrund von spektakulären wissenschaftlichen Erfolgen in der Impfstoffentwicklung.

"Reagieren wir nicht mehr auf das Virus, agieren wir!"

Das Hauptproblem an der aktuellen Situation: Wir sind alle am Ende unserer Kräfte, emotional, finanziell, gesellschaftlich, politisch. Genau deshalb müssen wir endlich aufhören, uns gegenseitig gegeneinander auszuspielen, Bund gegen Länder, Koalition gegen Opposition, Schule gegen Handel, Wissenschaft gegen Wirtschaft, Querdenker gegen Regimetreue, Alt gegen Jung. Und um es ganz klar zu sagen: Die Pandemie jetzt ohne harte Maßnahmen "durchlaufen" zu lassen wäre die maximale Beeinträchtigung und würde jeden von uns, die Republik und Europa in ihren Grundfesten erschüttern. Es hilft schlichtweg nicht, diese Realität zu verkennen.

Nehmen wir uns also gemeinsam konkrete Ziele vor, wie wir baldmöglichst zu einer Normalität hinkommen. Lasst uns das Ziel dabei fest im Auge behalten. Reagieren wir nicht mehr auf das Virus, agieren wir! Das unbedingte und schnellstmögliche Ende der Pandemie muss unser gesellschaftlicher Imperativ sein. Neben einer weiter zu optimierenden Impfkampagne ergeben sich für mich zwei ganz konkrete Ziele, zu denen wir alle beitragen können.

Gemeinsame Ziele

Erstens: Wir orientieren uns weniger an der Maximalkapazität der Intensivbetten, sondern daran, dass möglichst wenig Virus im Umlauf ist. So ist es leichter zu kontrollieren und mutiert weniger. Erinnern wir uns: Wir hatten das Virus letzten Sommer nach einem harten erfolgreichen Lockdown unter Kontrolle, hatten die Infektionen über Monate im Griff, und die Kontaktverfolgung hat funktioniert. Diesen Zustand haben wir leichtfertig verspielt. Diesen Fehler wollen wir nicht noch einmal machen!

Zweitens: Wir nehmen uns fest vor, keine gefährlichen Mutationen zuzulassen, die Impfungen – unsere beste Waffe gegen das Virus – zum Rohrkrepierer machen könnten. Eine solche Mutation ist kürzlich in Tirol aufgetreten, wo in der britischen Variante B.1.1.7 die Position 484 in der Perlenkette mutiert ist und als Mutation E484K dafür sorgt, dass Impfstoffe schlechter wirken. Wenn solche bedrohlichen Mutationen aufkommen, darf ihre Verbreitung nicht toleriert werden – wir müssen sie ausrotten.

Alle sind gefordert

Ja, es ist noch ein Stück steiniger Weg vor uns. Aber mit dem Blick auf die Zeit danach können wir es gemeinsam schaffen. Virologinnen, Epidemiologen, Molekularbiologinnen und Mathematiker können dabei zwar den besten Umgang mit dem Virus selbst aufzeigen, nicht aber den gesamtgesellschaftlichen Weg dahin definieren.

Der fehlende gesellschaftliche Konsens ist die größte Hürde auf dem Weg aus der Pandemie. Wie schaffen wir es also, dass wir alle am gleichen Strang ziehen? Jede und jeder kann spezifische Expertisen nutzen, in der Kommunikation helfen, und unabhängig von staatlichen Maßnahmen selbstverantwortlich handeln. Wir sind alle gefragt, uns einzubringen, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen. (Ulrich Elling, 9.4.2021)