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Ende 2019: Bau der Lusail-Arena in Doha. In acht Stadien wird von 21. November bis 18. Dezember 2022 gekickt. In einem Land so groß wie Oberösterreich.

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"Es wurden wichtige Fortschritte gemacht. Doch nun droht eine Kehrtwende."

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Seit der Vergabe der Fußball-WM 2022 im Dezember 2010 kamen 6500 Arbeitsmigranten in Katar ums Leben. Menschenrechte werden verletzt, Arbeiter ausgebeutet. So gesehen mag es überraschen, dass die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einem WM-Boykott die Sinnhaftigkeit abspricht. Die Deutsche Regina Spöttl setzt sich bei Amnesty seit Jahren mit Katar auseinander und hofft, dass erzielte Verbesserungen von Dauer sind. Kürzlich erhielten auch ihre Hoffnungen einen Dämpfer.

STANDARD: Wieso soll die Fußball-WM 2022 in Katar stattfinden?

Spöttl: Amnesty International hat sich dafür entschieden, die Aufmerksamkeit für die WM zu nutzen, um auf die Missstände und die Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar hinzuweisen und ganz konkrete Verbesserungen zu erreichen. Dafür setzen wir auf den Dialog mit den Verantwortlichen. Wir fordern die katarische Regierung sowie die Fifa auf, sicherzustellen, dass die WM nicht durch Menschenrechtsverletzungen überschattet wird.

STANDARD: War es also gut, dass die WM an Katar vergeben wurde? Kann man ausklammern, dass dort zig Stadien errichtet werden auf einer Fläche, die halb so groß wie das sechstgrößte deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern oder fast exakt so groß wie das viertgrößte österreichische Bundesland Oberösterreich ist?

Spöttl: Unbestreitbar hat die WM geholfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Arbeitsmigrantinnen und -migranten zu lenken. Der damit verbundene Druck trug dazu bei, dass die Verantwortlichen in Katar seit 2017 einige Anstrengungen unternahmen, um Reformen der Arbeitsgesetze einzuleiten. In den vergangenen Monaten haben wir jedoch eine beträchtliche Gegenreaktion von Teilen der katarischen Gesellschaft beobachtet. Besorgniserregend ist, dass Katars Schura-Rat, ein beratendes Gremium, vor kurzem eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt hat, die einen Großteil der Fortschritte wieder rückgängig machen würden. Dazu gehören der freie Wechsel des Arbeitsplatzes und das Verlassen des Landes ohne Genehmigung des Arbeitgebers.

STANDARD: Heuer steigt eine Bahnrad-WM in Turkmenistan, dem Amnesty viele Menschenrechtsverletzungen vorwirft. 2022 finden Olympische Winterspiele in China statt, das laut Amnesty bis zu eine Million Uiguren in Umerziehungslagern festhält. Sollen Großevents auch in solchen Ländern stattfinden, damit die Welt auf Missstände aufmerksam wird?

Spöttl: Es steht jedem Land frei, sich für großer Sportevents zu bewerben. Amnesty International appelliert an alle Verantwortlichen, sich vor der Vergabe mit der Lage der Menschenrechte in dem betreffenden Land auseinanderzusetzen und menschenrechtliche Risiken abzuwägen.

STANDARD: Geben Großevents nicht Machthabern oder Regierungen solcher Länder die Möglichkeit, im Rampenlicht zu stehen und ihr Image zu polieren?

Spöttl: Das "Sportswashing", das gezielte Nutzen von Wettkämpfen zur Reinwaschung des Images, ist weitverbreitet. Jüngstes Beispiel war die Dakar Rallye in Saudi-Arabien im Januar. Die Strecke führte an einem Gefängnis bei Riad vorbei, in dem Loujain al-Hathloul einsaß, die sich für ein Ende des Frauenfahrverbots eingesetzt hatte. Die WM in Katar darf dazu nicht dienen, darauf muss der Fußball drängen.

STANDARD: Inwiefern verbesserte sich seit der WM-Vergabe die Lage ausländischer Arbeitskräfte in Katar?

Spöttl: Begrüßenswert ist, dass jetzt Arbeitskräfte ohne Erlaubnis des Arbeitgebers den Arbeitsplatz wechseln oder das Land verlassen dürfen. Katar schaffte das Non-Objection-Certificate und das Exit Visa, also Unbedenklichkeitsbescheinigung und Ausreisegenehmigung ab, führte einen Mindestlohn ein und etablierte Schiedsstellen, um ausländischen Arbeitskräften bei Streitigkeiten den Zugang zur Justiz zu erleichtern. Ein Gesetz über Hausangestellte trat 2017 in Kraft. Alle diese Reformen werden bisher nur unzureichend umgesetzt, sodass Missbrauch weiterhin möglich ist und die meisten Täter straffrei ausgehen.

STANDARD: Kürzlich berichtete der "Guardian" von 6500 Arbeitern, die seit der WM-Vergabe zu Tode kamen. Die Dunkelziffer ist höher. Sind die Zahlen relativ, wie Katar behauptet?

Spöttl: Es ist äußerst schwierig, die Zahl der zwischen 2010 und 2020 verstorbenen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu überprüfen, weil Katar keine Daten dazu veröffentlicht. Wir fordern Katar seit Beginn der Bauarbeiten für die WM auf, Zahlen und Ursachen von Todesfällen genau und transparent zu untersuchen. Die Maßnahmen, die Katar bisher ergriffen hat, scheinen unzureichend. Es muss noch mehr getan werden, um die Beschäftigten vor prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schützen.

STANDARD: Viele Arbeitgeber behalten die Reisepässe von Arbeitsmigranten ein. Das sei moderne Sklaverei und leiste Missbrauch Vorschub, lautet der Vorwurf. Der Mindestlohn beträgt circa 250 Euro im Monat, Gehälter werden oft spät oder gar nicht ausbezahlt. Hat sich in Katar wirklich viel verändert?

Spöttl: Nach jahrelangem Druck verpflichtete sich Katar 2017, gegen die Ausbeutung von ausländischen Arbeitskräften vorzugehen und das missbräuchliche Kafala-System zu reformieren. Seither wurden wichtige Fortschritte gemacht. Dazu gehört ein Gesetz, das die Arbeitszeiten, die Ruhezeiten und einen Jahresurlaub für Hausangestellte regelt. Katar hat die Gesetze abgeschafft, die von ausländischen Beschäftigten die Genehmigung des aktuellen Arbeitgebers verlangten, wenn sie die Arbeitsstelle wechseln oder das Land verlassen wollten. Doch nach den Empfehlungen des Schura-Rats droht eine Kehrtwende, sie laufen darauf hinaus, diese wichtigen Schritte auf dem Weg der Abschaffung des Kafala-Systems wieder rückgängig zu machen. Dieser drohenden Kehrtwende muss entgegengesteuert werden. Alle Reformen müssen auch nach der WM 2022 Anwendung finden. Was darüber hinaus zu beklagen ist: Arbeitsmigranten dürfen keiner Gewerkschaft beitreten oder eine neue gründen. Die meist weiblichen Hausangestellten werden häufig gezwungen, 16 Stunden am Tag zu arbeiten, werden schlecht und würdelos behandelt und können diesen Arbeitsverhältnissen nicht entkommen, da die Arbeitgeber trotz Strafen noch immer die Pässe ihrer Angestellten einbehalten.

STANDARD: Fußballvereine wie der deutsche Rekordmeister FC Bayern München schlagen seit Jahren ihre Trainingslager in Katar auf und/oder werden von Katar gesponsert. Bayern absolvierte gar ein Freundschaftsspiel in Saudi-Arabien. Wie steht Amnesty dazu?

Spöttl: Auch Vereine sind in der Verantwortung. Es steht jedem Verein frei, nach Katar zu reisen und dort zu trainieren. Die Verantwortlichen sollten sich jedoch vorher über die Lage der Menschenrechte informieren und ihre Prominenz und ihren Einfluss nutzen, um mit ihren katarischen Partnern und Sponsoren ins Gespräch zu kommen und sich für die Menschenrechte einzusetzen. Sport kann Brücken bauen und viel bewirken. Fußballstars sind Idole, auch und gerade für die Jugend, jeder kennt sie. Es ist eindrucksvoll, wenn sie Botschafter nicht nur für ihren Sport und Marken, sondern auch für Menschenrechte sind. Amnesty International würde es daher begrüßen, wenn sich möglichst viele einflussreiche Akteure des Fußballs für die Menschenrechte einsetzen, nicht nur in Katar, sondern überall auf der Welt.

STANDARD: Wünschen Sie sich, dass Teams in der WM-Qualifikation weiterhin mit Bannern etc. für Menschenrechte eintreten?

Spöttl: Wir alle müssen uns einbringen, wenn wir wollen, dass diese WM ein positives und dauerhaftes Vermächtnis für die Menschenrechte in Katar hinterlässt. Katar muss jetzt am Ball bleiben, damit dieses Ziel erreicht wird. Doch auch die Fußballverbände haben eine Sorgfaltspflicht gegenüber den Menschenrechten. Und das nicht nur symbolisch. Sie können vor der Entsendung ihrer Teams die potenziellen Risiken analysieren, die sich aus dem Aufenthalt in einem Hotel oder der Austragung von Spielen in einem bestimmten Stadion ergeben. Sie können die Fifa und die katarische Regierung auffordern mitzuteilen, wie sie ihren Verpflichtungen nachkommen werden. Sie können auch Garantien verlangen, dass Menschen, die für sie Dienstleistungen erbringen werden, fair behandelt und pünktlich bezahlt werden. Amnesty fordert Mannschaften und Verbandsfunktionäre dazu auf, sich zu informieren, wo sie spielen, trainieren und sich aufhalten werden, und ihre Stimme und ihren Einfluss geltend zu machen, um sicherzustellen, dass die Rechte von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten geschützt werden. (Fritz Neumann, 9.4.2021)