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Der aktuelle Bewohner von 10 Downing Street: Boris Johnson.

Foto: Justin Tallis/Pool via REUTERS

Eine Spekulationsblase hielt 1720 die Londoner High Society in Atem. Angefangen bei König Georg I selbst, investierte alles, was Rang und Namen hatte, in die vermeintlich sagenhaften Gewinnaussichten der Handelsgesellschaft South Sea Company. Unbeirrt von wenig ermutigenden Zwischenergebnissen, verloren selbst klügste Zeitgenossen wie der berühmte Physiker Isaac Newton den Kopf, steckten Tausende und Zehntausende von Pfund in die verlustbringende Firma.

Das Zerplatzen der Blase löste eine Staatskrise aus und brachte vor 300 Jahren einen Mann ins Amt des wichtigsten Beraters Seiner Majestät. Der Whig-Politiker Robert Walpole (1676–1745) gilt als Begründer des wichtigsten Regierungsamtes auf der Insel, das er selbst ganz gewiss nicht bei seinem heutigen Namen genannt hätte. Denn "Premierminister" stellte eine Beleidigung dar für jemanden, der nach Meinung der Zeitgenossen zu viel Macht angehäuft hatte. Offiziell erlangte Walpole die Ämter des "First Lord of the Treasury", des Schatzkanzlers und des Unterhausministers – der erste Titel steht bis heute auf dem goldenen Schild der berühmten schwarzen Tür mit der Zahl 10, dem Amtssitz in der Downing Street.

Geld regiert die Welt

Mit den drei Amtsbezeichnungen waren auch Walpoles Aufgaben umrissen. Geld musste her, für den Hof des aus Hannover erst 1714 nach England gekommenen Kurfürsten und für das gebeutelte Staatswesen. Dazu bedurfte es der geschickten Führung der Staatsfinanzen ebenso wie der Manipulation und Kontrolle des Oligarchenklüngels im Parlament. Weitsichtig erkannte Walpole, dass im Unterhaus bleiben muss, wer die Kontrolle über das liebe Geld ausüben will.

Mit dem König kommunizierte der Staatsmann in schlechtem Küchenlatein – der hannoversche Kurfürst und spätberufene König sprach kein Englisch, Walpole konnte kein Französisch. "Robinocracy" nannten schon die Zeitgenossen das schamlose System aus Bestechung und Patronage, das auch den Übergang auf Georg II (1727–1760) überlebte. Die intellektuelle und künstlerische Elite des Landes verabscheute den bis 1742 regierenden Machthaber. Doch Walpole vergrößerte den Reichtum des Landes, vermied die Beteiligung an allen Kriegen, ermutigte den Handel mit Übersee, senkte die Steuern und scheute vor schwierigen Reformen zurück, die hätten schiefgehen können.

Zwei Frauen, 52 Männer

Lässt sich eine erfolgreiche Regierung besser definieren? 52 Männer und zwei Frauen, Margaret Thatcher (1979–1990) und Theresa May (2016–2019), sind Walpole in das älteste demokratische Regierungsamt der Welt gefolgt. Die Amtszeiten der beiden Premierministerinnen machen nicht einmal fünf Prozent der vergangenen 300 Jahre aus; gemeinsam kommen sie immerhin auf ein wenig mehr als die durchschnittliche Verweildauer im Amt. Diese beträgt fünfeinhalb Jahre, eine ganze Anzahl von Politikern brauchte dafür zwei oder drei Perioden, der große Liberale William Gladstone (1809–1898) schaffte sogar viermal den Sprung in die Downing Street, zum letzten Mal 1892 im gesegneten Alter von 83 Jahren.

William Pitt der Jüngere (1759–1806) kam mit lächerlichen 24 Jahren ins Amt und starb nach insgesamt knapp 19 Dienstjahren im Amt, gerade mal 46 Jahre alt. Lediglich sechs seiner Nachfolger waren beim Amtsantritt jünger. So lange wie der legendäre Walpole, knapp 21 Jahre, hat seither niemand ausgehalten; der brillante, aber bei Amtsantritt schon todkranke George Canning brachte es 1827 auf lediglich 117 Tage.

Zwei Frauen, neun Männer

Während dieser 300 Jahre saßen neun Männer und zwei Frauen auf dem britischen Königsthron; die beiden Königinnen Victoria (1837–1901) und die rüstige, knapp 95-jährige Queen Elizabeth II, die im 70. Jahr ihrer Regentschaft steht, machen gemeinsam 44 Prozent dieser Zeit aus. Victoria verschliss zehn Männer im höchsten Regierungsamt, Boris Johnson ist der 14. Leiter der "loyalen Regierung" Ihrer Majestät Elizabeth II.

Wie der 56-Jährige waren gut 30 Prozent seiner Vorgänger, darunter fünf der letzten 13, Zöglinge des teuren Internats Eton, insgesamt besuchten zwei Drittel der 55 Auserwählten Privatschulen. Beinahe obligatorisch bleibt bis heute auch ein Studium an den Elite-Unis von Oxford – wie Johnson und seine beiden unmittelbaren Vorgänger May und David Cameron – (2010–2016) oder Cambridge.

Ein guter Premierminister, hat der Londoner Publizist Andrew Gimson in seinem vergnüglichen Buch "Gimson's Prime Ministers" resümiert, brauche wenigstens einige der folgenden Eigenschaften: "Mut, Machthunger, Energie, Glück, rhetorisches Geschick. Sie müssen anders sein als Ihr Vorgänger, den die Leute satt haben, wie sie schon bald auch Sie satt haben werden."

Einigermaßen respektabel solle der Anwärter auf das höchste Regierungsamt sein, sich aber nicht dafür zu schade, ausreichend Wohltaten unter die Anhänger zu verteilen. "Gutes Krisenmanagement braucht es natürlich, und ein Gefühl für die Meinung der Öffentlichkeit" – wobei bis tief ins 19. Jahrhundert hinein die heute alles bedeutende Öffentlichkeit vor allem aus der Meinung des jeweiligen Monarchen bestand. Schließlich hält der langjährige Parlamentskorrespondent auch eine weithin unterschätzte Fähigkeit für essenziell: "Verabschieden Sie sich rechtzeitig und auf elegante Weise von liebgewonnenen Positionen" – Angela Merkels Covid-Reue lässt grüßen.

Ist ein guter Premierminister per definitionem auch erfolgreich? So sieht es der Historiker Anthony Seldon und zählt neun Namen auf: Walpole und Pitt aus dem 18. Jahrhundert, Robert Peel, Lord Palmerston und Gladstone im 19. Jahrhundert; aus dem vergangenen Jahrhundert die Kriegspremiers David Lloyd George (Erster Weltkrieg) und Winston Churchill (Zweiter Weltkrieg), den Labour-Reformer Clement Attlee (1945–1951) und schließlich die eiserne Lady Thatcher.

Wen aus dieser illustren Liste er gern einmal treffen würde, hat die BBC dieser Tage Boris Johnson gefragt. Die Radiomacher rechneten mit Churchill, über den der damalige Londoner Bürgermeister 2014 eine bewundernde Biografie schrieb. Geschichtsprofessor Richard Evans von der Uni Cambridge urteilte damals eisig, es handele sich um das Werk "über einen, der Geschichte schrieb, von einem, der Geschichte offenbar erfindet".

Moralist als Johnsons Idol

Oder würde sich Johnson gern von Walpole in der Staatskunst unterweisen lassen? Vielleicht ein Gläschen trinken mit Benjamin Disraeli (1804–1881), dem Enkel eines jüdischen Immigranten aus Italien, der Queen Victoria umschmeichelte und die konservative Partei umkrempelte? Die Antwort fiel überraschend aus: "Gladstone würde ich wahnsinnig gern treffen." Ausgerechnet Disraelis großen liberalen Gegenspieler, den Moralisten und Idealisten, der an Johnsons leichtem Lebensstil, zwei Scheidungen und mindestens sechs Kindern von drei Frauen gewiss viel auszusetzen hätte?

Aber vielleicht wiegen solche Aspekte weniger schwer in der Interessengruppe der Premierminister, deren "unmöglichen Job" (Gimson) "dringend reformbedürftig" ist, wie Seldon glaubt. In der "Times" machte der Autor detaillierter Bücher über die Amtszeiten aller Premierminister seit Maggie Thatcher einige Vorschläge. Da die ungeschriebene Verfassung des Königreiches und das Mehrheitswahlrecht die Machtkonzentration in der Downing Street fördere – Lord Hailsham schrieb treffend von einer "gewählten Diktatur" –, solle sich der Premier ausdrücklich einen vertrauenswürdigen Stellvertreter suchen und diesem weite Teile der Innenpolitik überantworten.

Machtrochaden

Umgekehrt hält Seldon eine Rückbesinnung auf den Titel des "First Lord of the Treasury" für wichtig: Zu viel Macht sei in den vergangenen Jahrzehnten an den Finanzminister, auf der Insel Schatzkanzler genannt, übergegangen. Da wird der frühere Labour-Premier Tony Blair (1997–2007) wissend seufzen: Seine Initiativen wurden immer wieder von seinem ehrgeizigen Rivalen, dem Schatzkanzler Gordon Brown, durchkreuzt.

Die meisten Premierminister, so lautet Seldons Resümee, enden als Enttäuschung. Andrew Gimson sieht dies geradezu als zentrale Aufgabe der Bewohner der Downing Street: Sie würden häufig ein Vorgehen verkörpern, das die Mehrheit der Bevölkerung begeistert unterstützt. So war es mit Neville Chamberlains (1937–1940) Appeasement-Politik gegenüber Hitler ebenso wie mit Blairs Unterstützung für die US-Invasion im Irak 2003. "Wenn die Politik fehlschlägt, muss der Premierminister gehen. Das ist praktischer, als das Volk auszuwechseln", schreibt Gimson augenzwinkernd. (Sebastian Borger aus London, 8.4.2021)