Wir waren in Jennersdorf im Südburgenland stationiert .Assistenzeinsatz nannte man das – aber es hieß nichts anderes als Flüchtlinge aufgreifen.

Foto: Christian Fischer

Ich habe nur noch wenige Erinnerungen an das Bundesheer, zu viele Jahre sind seither vergangen. Auf der Autofahrt zum Einrücken spielten sie auf Ö3 In the Army Now, sowas vergisst man nicht. Der Erste, den ich in der Kaserne antraf, war ein großer Maurer aus Mödling. Er wankte wie Balu der Bär vom Spind zum Stockbett und hatte einen ziemlich irren Lacher, das weiß ich auch noch.

Die nächsten acht Monate verbrachte man mit Leuten, denen man sonst niemals begegnet wäre: Da waren der eingebürgerte Türke mit dauerverstopfter Nase, der immer witzige Meldungen schob, und der glatzköpfige Ungar mit WU-Abschluss, der niemals mitlachte. Der alte Spieß mit dem gestutzten Schnauzbart, der Kompanie-Aufseher, der eigentlich total in Ordnung war – und der junge Spieß mit dem getunten Renault Mégane, der Rekrut, den wir so nannten und der bis auf seinen Bleifuß auch in Ordnung war.

Und die Ausbildner: Der blonde Stabswachtmeister, der ein bisschen aussah wie Robert Redford, aber keinem was antat, und der R. mit den Popeye-Unterarmen, vor dem man sich fürchten musste. Einmal, da ließ er uns – nachdem es zu Mittag gebackenen Dorsch mit Erdäpfel-Mayonnaise-Salat gegeben hatte – auf dem Rasen hinter den Unterkünften so lange Liegestütze machen, bis wir uns in den Rosensträuchern übergaben.

Aber im Grunde waren die Ausbildner arme Würstchen, denn da gab es noch die wirklich hohen Tiere – den jungen Leutnant von der Milak und den stiernackigen Hauptmann, den alle Sauschädl nannten, auch die Ausbildner.

Parallelwelt hinter Kasernenmauern

Man lebte sich zusammen in dieser Parallelwelt hinter Kasernenmauern. Der durch den Flur hallende Tagwache-Ruf um 6 Uhr morgens war bald genauso normal wie das ewige Reinigen des STG 77. Und man lernte, sich durchzuwurschteln. Das Wichtigste war, dass man sich bei den anderen nicht unbeliebt machte.

Eines Abends, da schlich der große Maurer aus Mödling mit ein paar anderen ins Zimmer des Ungarn, um ihm eine ordentliche Abreibung zu verpassen, das weiß ich noch. Wahrscheinlich, weil er sich immer wieder vor Aufgaben drückte, oder einfach nur, weil er so ein Eigenbrötler war. Ich glaube, dass ich mich schlafen legte, vielleicht stand ich aber auch Schmiere – daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Woran ich mich hingegen bis heute ganz genau erinnern kann, ist ein Geräusch. Es ging noch mehr durch Mark und Bein als das Brüllen des rot angelaufenen Sauschädls, wenn wir auf dem Exerzierplatz mal wieder aus dem Gleichschritt kamen. Und es drehte einem den Magen um. Dabei war das Geräusch gar nicht mal laut – doch wir horchten auf alles, was sich ab der Abenddämmerung drüben im Dickicht regte, damals an der ungarischen Grenze.

Mit dem getunten Mégane

Wir waren in Jennersdorf im Südburgenland stationiert. Assistenzeinsatz nannte man das – aber es hieß nichts anderes als Flüchtlinge aufgreifen. Sechs Wochen, immer dreieinhalb Tage, dann durfte man für 24 Stunden nach Hause.

Nach Jennersdorf brauchte man eine Stunde und fünfzehn Minuten, aber nur wenn der Spieß, der mit dem getunten Renault Mégane, fuhr. 210 km/h über die Südautobahn, 170 auf den Bundesstraßen, immer ein Red Bull in der linken Hand. In Jennersdorf gab es Kukuruzfelder, eine Bar und freitags einen Grillhendlwagen auf dem Parkplatz vom Lagerhaus. Im STG 77 steckten zum ersten Mal scharfe Patronen.

Das gespenstische Geräusch in der Abenddämmerung kam von einem Karpfenteich, direkt hinter dem Grenzzaun. Wenn man neben der Holzhütte stand, in der wir zu zweit Wache hielten, konnte man es hören. Eine Art Plumpsen, als fiele ein praller Sandsack ins Wasser. Es jagte einem jedes Mal einen Schrecken ein.

"Das müssen ordentliche Apparate sein", sagte der kleine Feldwebel mit der Nickelbrille, der fast so breit wie hoch war. "Die Viecher werden 50 Kilo schwer." Ich dachte an die schleimigen Fische, die früher vorm Heiligen Abend in unserer Badewanne trieben – zwei abstehende Antennen neben dem japsenden Maul. "Was bitte fressen die?", überlegte ich laut. "Kleine Hunde? Wildschweine?" "Vielleicht Flüchtlingskinder", witzelte der quadratische Feldwebel, und setzte wieder das Fernglas an.

Pläne für ein Spa-Hotel

An meine Bundesheer-Zeit hatte ich lange nicht mehr gedacht – bis die stillgelegte Martinek-Kaserne im Spätsommer 2014 plötzlich in den Medien auftauchte. Sie sollte 900 Asylwerbenden aus Syrien als Notunterkunft dienen. "Baden sagt Nein zu einem zweiten Massenquartier neben Traiskirchen!", ließ der damalige Bürgermeister ausrichten. Eine Zeitlang gab es Pläne, aus der Kaserne ein Spa-Hotel zu machen. Sie wittert bis heute hinter überwucherten Zäunen vor sich hin.

2015, ein Jahr später platzt das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen aus allen Nähten. Hunderte Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan liegen auf der großen Rasenfläche im Freien verstreut. Sie erzählen nichts, doch im Fernsehen sieht man ausgebombte Städte und IS-Irre, die Köpfe abschneiden.

Ich drücke mich auf dem Weg zur Arbeit an den Gestrandeten und immer mehr freiwilligen Helfern am Westbahnhof vorbei. Auf Facebook ruft die Caritas dazu auf, Schuhe und Kleidung in bestimmten Größen zu den Sammelstellen zu bringen. Ich nehme es mir jeden Tag vergeblich vor. In der Abend-ZiB sagt der junge Außenminister, dass die Lage dramatisch sei. Sein Haar glänzt tranig, sein Gesicht wirkt im Licht der Scheinwerfer wie aus Wachs.

Nachbar in Not

"Foszczynski, sind Sie auch einer von denen, die diesen Verbrechern was spenden?", fing der quadratische Feldwebel einmal an. "Nachbar in Not und dieser ganze Schmarrn."

Wir saßen in kratzige Decken gewickelt vorm Fenster, durch das eisiger Mondschein fiel. Man musste reden, um nicht einzuschlafen. In der Hütte gab es einen kleinen Gusseisenofen und jede Menge Holzscheite – nur Feuerzeug gab es keines. Sowas vergisst man nicht. Durch die Wand hörte man das Plumpsen der Riesenkarpfen, das auch das Plumpsen von kleinen Kindern sein konnte. Aber eigentlich glaubten wir nicht mehr daran, dass wir hier jemals Flüchtlinge aufgreifen würden.

"Ich finde nicht, dass es ein Schmarrn ist." Die Worte gefroren vor meinen Augen. Ich blies in die gefalteten Hände, der Morgen war noch in weiter Ferne. "Die Serben, das sind keine Guten", hörte ich ihn im Halbdunkel weiter. "Die haben immer nur Kriege angezettelt." Es blieb eine Weile still, vielleicht war er eingeschlafen. Vielleicht überlegte er sich auch eine Bosheit für mich. Eigentlich musste einer von uns vor der Türe Wache halten. "Sie sind in Ordnung, Foszczynski", sagte er plötzlich. "Das sind auch nur Menschen."

Unterwegs nach Traiskirchen

An einem Sonntagnachmittag im August steige ich ins Auto und fahre nach Traiskirchen. Im Plastiksackerl stecken der beige Kaschmirpulli, der mir immer schon zu kurz war, und die billigen Kunstlederschuhe mit den quietschenden Sohlen. Ich hatte sie einmal für ein Vorstellungsgespräch gekauft. In der Straße neben dem Lager herrscht Jahrmarktstimmung.

An einem Sonntagnachmittag im August steige ich ins Auto und fahre nach Traiskirchen.
Foto: APA / Herbert P. Oczeret

Mir kommen junge Burschen mit prallgefüllten Tragtaschen entgegen. Der Föhnsturm treibt aussortierte Kleidungsstücke und einen Plastikfußball durch ein Spalier aus Wühltischen und geöffneten Kofferräumen. Ich mache wieder kehrt – in einem der Kartone entdecke ich ein Spiel, das ich von meiner Nichte kenne.

Man zieht mit einer kleinen Magnet-Angelroute Schablonen aus der Box. Die bunten Fische zählen 100 Punkte, die kleineren 50, der Seestern 10. Auf dem verbeulten Stiefel steht auf der Rückseite eine Null – den wirft man gleich wieder zurück ins Wasser.

Aufgereiht im Flussbett

Einmal, da war es nicht mehr nur eine Übung. Ich wusste es sofort, weil der Maurer nicht grinste, sondern mit Panik in den Augen angelaufen kam: "Übertreter! Sofort verstärken!" Sie standen schon aufgereiht im Flussbett. Ich glaube, sie hatten die Hände hinter dem Kopf verschränkt, aber vielleicht irre ich mich.

Es waren vermutlich Kosovo-Albaner, die flohen damals vor den mordenden Milošević-Truppen und vor den Bomben der Nato. Vielleicht waren es aber auch Tschetschenen. Um die zehn, das weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich weiß noch, dass ich die Taschenlampe hielt – der Kommandant hatte sie mir in die Hand gedrückt. "Leuchten!"

Ich sollte den Lichtstrahl auf Kopfhöhe richten, während sie durchsucht wurden. Ihre Gesichter sahen eher erschöpft als verängstigt aus. Ihre Hosenbeine waren nass. Ich hätte sie gerne laufen lassen, aber ich hatte dieses Ding in der Hand. Ich versuchte, nicht zu zittern. Alles lief zügig ab.

Man deutete ihnen, in den Steyr zu klettern, und brachte sie zum Stützpunkt. Am nächsten Tag stellte keiner viele Fragen, der Maurer wollte trotzdem etwas gehört haben. "Soll ich euch sagen, was die mit denen in der Nacht noch gemacht haben?" Er gluckste wie eine irre Comic-Figur. "Leibesvisitation! Sogar ins Arschloch hat der Leutnant ihnen reingeleuchtet." Aber vielleicht war das nur ein Gerücht.

Menschliche Flaschenpost

Es ist Herbst geworden. Neben den Glückwunschkarten im Thalia am Westbahnhof hängt ein kleiner Nico-Plüschlöwe um 7,90 Euro. Er sieht zum Liebhaben und mutig aus. Ich kaufe ihn spontan und gehe damit zu den Bahnsteigen hoch. An den Gleisen drängen sich Dutzende Menschen auf Durchreise.

Ich will schon umdrehen, da sehe ich ein zuckersüßes Mädchen mit schwarzen Locken vor mir auf der Brüstung sitzen. Ich zeige ihm den Löwen – sofort beginnen seine Augen zu leuchten. Es nimmt ihn staunend an sich und beachtet mich schon nicht mehr. Ich aber schaue dem Mädchen noch ein paar Augenblicke ins Gesicht, ehe es seltsam wirkt.

Beim Runtergehen zur U-Bahn ist mir warm ums Herz, doch die Flamme droht schon zu ersticken. 7,90 Euro fürs gute Gewissen. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade eine menschliche Flaschenpost befüllt. Abends glänzt das Gesicht des jungen Außenministers. Er sagt, dass eine harte Linie nötig sei. Bei Bodrum spült das Meer einen zweijährigen syrischen Jungen an den Strand. Es sieht aus, als sei er beim Spielen im Sand eingeschlafen.

Angespülte Körper am Strand

Im Februar 2016 steht der junge Außenminister im Licht der Scheinwerfer und erklärt, dass die Balkanroute jetzt geschlossen sei. Im Fernsehen sieht man Bilder von zerschlissenen Männern, die an der griechisch-mazedonischen Grenze panisch an Zäunen rütteln. Und von Tränengasgranaten, die zwischen Kindern und Frauen explodieren. Sie irren mit verheulten Augen durch den ätzenden Nebel. Da würde wohl selbst ein mutiger Löwe nichts mehr ausrichten können.

Danach werden die Nachrichten über Flüchtlinge seltener. Ab und zu tauchen auf meinem Handy Meldungen über Bootskatastrophen auf der neuen Ausweichroute auf. Mal sind es dutzende, mal mehr als hundert Tote. Die Körper werden an den Stränden von Libyen oder Lampedusa angespült.

Der Innenminister fordert Strafen für Seenotretter. Die EU stellt ihre Kontrollfahrten im Mittelmeer ein. Man liest, dass griechische und türkische Küstenwachen mit Absicht Schlauchboote zum Kentern bringen und dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex dabei wegsieht. Der junge Außenminister ist jetzt Bundeskanzler und sagt, man dürfe keine falschen Hoffnungen schüren.

Plüschlöwe auf ruhigen Wellen

In meinen Träumen schaukelt manchmal ein Plüschlöwe auf ruhigen Wellen. Niemand hält ihn fest. Irgendwann ließen wir die Grenze und das Plumpsen im Karpfenteich zurück. Ich erinnere mich an tagelange Gefechtsübungen in irgendeinem Sperrgebiet. Wir hackten mit dem Feldspaten Gruben in den gefrorenen Boden und legten uns nachts hinein. Zwischendurch durfte man sich in großen Feldzelten aufs Ohr hauen.

Die feuchten Zehen stießen an das glühend-heiße, knisternde Ofenrohr in der Mitte. Wir schliefen zu acht in einem Zelt, nur der Hauptmann hatte eines für sich allein. Alle zwei Stunden musste jemand aufstehen und in seinem Ofen Holz nachlegen, das weiß ich noch.

Wir stopften möglichst viele Scheite rein, weil die Dinger wie verrückt qualmten. Einmal hatte es der Maurer übertrieben, und er sah extra nach, ob er den Sauschädl nicht vergiftet hatte, aber der schnarchte tief und fest vor sich hin.

Der versiegte Flüchtlingsstrom

September 2020: Das Camp Moria ist abgebrannt. Auf Fernsehbildern laufen Menschen vor dunkelgrauen Rauchsäulen und lodernden Flammen davon. Dann liegen sie in einer endlosen Reihe neben Leitplanken auf einer staubigen Straße.

Da ist er wieder, der versiegte Flüchtlingsstrom. Man hat die Elenden zu Tausenden auf Lesbos hinter Kasernenmauern weggesperrt. Dort und in den umliegenden Olivenhainen hausten sie ohne Strom in Zelten und Containern, warteten oft jahrelang vergeblich auf ihren Asylantrag.

Zuerst fluteten die Herbststürme das Lager mit Fäkalien. Dann fraß sich das Coronavirus durch seine Reihen, schließlich verwandelte die Feuersbrunst alles in eine verkohlte Brache. Aus den Gesichtern der Obdachlosen spricht Entsetzen, aber auch Erleichterung.

Doch Moria darf nicht verschwinden. Es wird wiederaufgebaut. Auf einem ehemaligen Schießplatz des griechischen Militärs, der ans Meer grenzt. Die österreichische Bundesregierung schickt Zelte, blütenweiß wie das Hemd des Innenministers, der sie mit aufgekrempelten Ärmeln nach Lesbos "bringt".

Exerzieren üben

Am Ende meiner Wehrdienstzeit stand ein Besuch des Verteidigungsministers an, das weiß ich noch. Die ganze Kaserne übte tagein, tagaus das Exerzieren. Ich versteckte mich mit einem zweiten auf dem Zimmer, doch der alte Spieß, der eigentlich ganz in Ordnung war, bemerkte es und verpfiff uns. Es setzte meinen ersten Rapport – der Sauschädel würde uns den Kopf abreißen, so viel war klar. Doch über all dem lag schon der zarte Streif der Freiheit. Schlussendlich verlief die Sache im Sand der letzten Tage.

Ich lese, dass Kinder beim Spielen in Kara Tepe Patronen im Schutt ausgraben. Sie waschen sich mit Salzwasser. Bei Flut züngelt die faulige Gischt an ihren Zeltplanen, als wolle sich das Meer zurück holen, was ihm zusteht. Die Menschen schlafen auf Pappkarton im Schlamm. Dann kommt der Winter. Es hat auch in der Ägäis Minusgrade.

Zu Weihnachten appelliert der Kardinal an die Regierung, 100 Familien aus dem Lager zu evakuieren. Der junge Bundeskanzler sagt, dass es ein falsches Signal wäre. Eine Bürgerinitiative ersucht, fünf Familien nach Österreich holen zu dürfen. Der junge Bundeskanzler schweigt.

NGOs berichten, dass Eltern ihre Kinder nachts am Handgelenk festbinden, damit sie nicht ins Meer laufen. Am Ende beißen die Kinder die Ratten. Ich überlege, was zum Vorschein käme, wenn die Scheinwerfer der TV-Teams die wächserne Maske des jungen Kanzlers wegschmölzen. Wäre es das Antlitz eines Kiementiers?

Steinerner Koloss

"Rekrut Foszczynski – Sie sind für mich ein U-Boot. Über Sie gibt es nichts zu sagen", hat der Leutnant beim Abrüsten gesagt. Habe ich zu lange geschwiegen?

Auf dem Heimweg fahre ich jeden Abend am Lager Traiskirchen vorbei – ein steinerner Koloss. Es treibt wie ein Geisterschiff in den Fluten der Nacht. Alle Stockwerke sind grell erleuchtet, doch nie sieht man auch nur eine Menschenseele. Das phosphoreszierende Grinsen eines Irrsinns, der sich europäische Asylpolitik nennt.

Ich steige aufs Gas, wenige Minuten später drehe ich den Fernseher auf. Im Allgemeinen schlafe ich gut. Nur manchmal, da werde ich nachts kurz munter. Vom Auftauchen der stummen Fische im Teich. (Martin Foszczynski, ALBUM, 10.4.2021)