Mit Wasserwerfern ging die Polizei gegen die randalierenden Jugendlichen vor.

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Die Jugendlichen bewarfen Fahrzeuge mit Feuerwerkskörpern.

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Auch in der Nacht auf Freitag ist es in der nordirischen Hauptstadt Belfast zu Krawallen gekommen. Hatte die Polizei in der Nacht davor noch von den schwersten Ausschreitungen der vergangenen Jahre gesprochen, waren die Einsatzkräfte diesmal mit Wasserwerfern bereit, um die randalierenden Jugendlichen auseinanderzutreiben. Politiker, Sportvereinsvertreter und andere Erwachsene trafen sich zudem an neuralgischen Punkten, um die Jugendlichen von der Gewalt abzubringen.

Ein lokaler Abgeordneter von Sinn Féin war ebenfalls vor Ort, um Jugendliche zu beruhigen.

Bereits am Donnerstag hatten örtliche Politiker sowie die Regierungen in London und Dublin versucht, die Initiative zurückzugewinnen. Nach einer Sondersitzung des Belfaster Regionalparlaments verurteilte die überkonfessionelle Allparteienregierung die Gewalt der vergangenen Tage. Man sei politisch "sehr unterschiedlicher Meinung", hieß es in einer Erklärung führender Politiker der protestantisch-unionistischen und der katholisch-nationalistischen Seite. "Doch wir unterstützen gemeinsam Recht und Ordnung."

Wie bereits übers Osterwochenende randalierten erneut überwiegend junge Leute in der Nacht auf Donnerstag. Hatten sich die Krawalle bisher auf protestantische Stadtviertel beschränkt, entzündete sich der Konflikt diesmal an einem neuralgischen Punkt in Nordbelfast. Am Lanark Way, zwischen der katholischen Springfield Road und der protestantischen Shankill Road, schlugen Vermummte einen Busfahrer in die Flucht und zündeten sein Fahrzeug an.

Attacken auf Friedensmauer

Stundenlang wurden Pflastersteine, Feuerwerkskörper und Flaschen über die zynischerweise "Friedensmauer" genannten meterhohen Zäune zwischen den Stadtvierteln geworfen. Nach Polizeiangaben waren 600 Menschen beteiligt; Erwachsene spendeten Jugendlichen und jungen Männern Beifall für die Randale. Acht Beamte erlitten Verletzungen; ein Journalist des "Belfast Telegraph" wurde bestohlen und niedergeschlagen, zwei junge Männer wurden festgenommen.

Nach tagelangem Schweigen zeigte sich Premier Boris Johnson "zutiefst besorgt" über die Ereignisse, sein irischer Kollege Michéal Martin warb für eine Entschärfung der Spannungen. Londons Nordirland-Minister Brendon Lewis traf sich mit nordirischen Politikern, um nach Lösungen suchen. In einem Interview mit BBC Radio Ulster sagte er, dass er auch sehen wolle, wie sich die EU an der Lösungssuche beteiligt.

Die in London seit 2010 regierenden Konservativen haben den noch immer fragilen Friedensprozess, der 1998 den 30 Jahre alten Bürgerkrieg mit mehr als 3.500 Toten beendete, nie zu ihrer Sache gemacht. Nach einer Reihe inkompetenter Minister gelang es Lewis' Vorgänger Julian Smith zu Beginn vergangenen Jahres mit Zuckerbrot und Peitsche, die tiefzerstrittenen Parteien wieder zur Allparteienregierung zusammenzuführen, nachdem diese drei Jahre lang brachgelegen war. Wenige Wochen nach diesem Triumph wurde er von Johnson gefeuert.

Nordirland-Protokoll

Dass der Premierminister über Nordirland möglichst wenig hören will, hat mit einem peinlichen Brexit-Aspekt zu tun. Unter Druck aus Brüssel und Dublin stimmte Johnson im Austrittsvertrag dem sogenannten Nordirland-Protokoll zu. Diese Vereinbarung hält die Landgrenze auf der Insel offen und garantiert dadurch den weitgehend ungestörten Verbleib von ganz Irland im europäischen Binnenmarkt. Dadurch entstand aber die Notwendigkeit begrenzter Zoll- und Warenkontrollen zwischen der einstigen Unruheprovinz und der britischen Hauptinsel, die ja Binnenmarkt und Zollunion verlassen hat.

Johnson leugnete zunächst diese Tatsache, spielte dann ihre Bedeutung herunter. Tatsache ist: Immer wieder bleiben die Regale führender Supermärkte leer, in den Häfen kommt es wegen der zeitraubenden Kontrollen zu Versorgungsproblemen. Dafür sei der Bürokratismus der EU-Kommission verantwortlich, behaupten die Brexiteers. London hat nun einseitig die Übergangsfristen für Zoll- und Veterinärkontrollen verlängert, wogegen Brüssel gerichtlich vorgeht.

Abstimmungsverhalten der Nordiren

Wenn schon die Regierung das Recht beuge, brauche sie sich nicht darüber zu wundern, dass die Bevölkerung ähnlich verfährt, glaubt Baronin Nuala O'Loan, die jahrelang der nordirischen Polizei-Ombudsstelle vorstand. Stattdessen solle London mit gutem Beispiel vorangehen, teilte das Mitglied des Oberhauses der BBC mit: "Wir müssen gemeinsam mit der EU das Nordirland-Protokoll der Realität anpassen."

Die politische Brisanz dieses Brexit-Folgen-Streits ergibt sich aus dem Abstimmungsverhalten der Nordiren 2016: 56 Prozent wollten damals in der EU bleiben, inzwischen ist die Mehrheit laut Umfragen gewachsen. Als einzige größere Partei plädierte die protestantische Unionistenpartei DUP von Ministerpräsidentin Arlene Foster nicht nur für den Austritt, sondern auch für den denkbar härtesten Brexit. Dessen negative Folgen sorgen nun bei ihrer Anhängerschaft sowie bei den gewaltbereiten sogenannten Loyalisten ("loyal zur britischen Krone") für Zorn und Verbitterung.

Zu dieser Problemlage gesellte sich in der Karwoche eine umstrittene Entscheidung der Staatsanwaltschaft: Diese stellte ohne Anklagen das Ermittlungsverfahren gegen führende Vertreter von Sinn Féin, der größten irisch-katholischen Nationalistenpartei, ein. Deren langjähriger Chef Gerry Adams, dessen Nachfolgerin Mary-Lou McDonald sowie die Co-Leiterin der Allparteienregierung, Michelle O’Neill, hatten im Juni mit rund 2.000 anderen am Begräbnis des IRA-Terroristen Robert "Bobby" Storey teilgenommen – und das zu einer Zeit, als die Covid-Vorschriften Beerdigungen auf 30 Trauernde beschränkten. (Sebastian Borger aus London, 9.4.2021)