Begrünung lautet angesichts heißer werdender Sommer das Gebot der Stunde – aber ist sie, wie hier im Hochhaus One Central Park in Sydney, auch vertikal sinnvoll?
Foto: Roland Halbe

Pro

Mit dem Glauben an das Automobil und neuen Entwicklungen in der Beton-, Glas-, Stahlindustrie hat die späte Moderne unsere Städte komplett verändert. Und jetzt haben wir den Salat. Oder auch nicht, denn genau dieser ist aus den Betonwüsten zum überwiegenden Teil völlig verschwunden. Die Folgen davon sind fatal: Überhitzung der Städte, katastrophale Luftqualität und in vielen grünlosen Vierteln noch dazu kalorische Anti-Oasen unter dem fast schon euphemistischen Titel Urban-Heat-Islands.

Die einzig konsequente Möglichkeit, um aus diesem betonierten Schlamassel wieder rauszukommen, ist die offensive, ja fast schon aggressive Begrünung unserer Städte. Die einen machen das mit Parks, Wiesen, Blumenbeeten, Gemüserabatten und Urban-Gardening-Flächen, die anderen greifen dazu auf die etwas dichtere Variante mit Büschen, Stauden, Sträuchern und Bäumen aller Art zurück. Wenn es sein muss, nicht nur der horizontalen Fläche.

Einer der Meister der vertikalen Begrünung ist der Pariser Botanikkünstler Patrick Blanc, der unter anderen auch Jean Nouvels preisgekröntes Hochhaus One Central Park in Sydney begrünte (siehe Foto). Auch andere vertikale Flächen wie Feuermauern, Innenhöfe, Altbaufassaden, Tunneleinfahrten und meterhohe Mauern sind vor seinem grünen Daumen nicht sicher – ob das nun Madrid, Miami oder Kuala Lumpur ist. Und dann gibt es ja noch den vertikalen Waldmeister Stefano Boeri mit seinen millionenfach geinstagramten Türmen in Mailand.

Ja klar, vieles davon ist Fassadenkosmetik und Behübschung von eigentlich naturkatastrophalen Problemen. Außerdem braucht man Metallkonstruktionen, Bewässerungsanlagen und manchmal auch allerlei sensorische Hard- und Software. Doch der mikroklimatische Effekt infolge von Verschattung, Verdunstungskälte, Feinstaubabsorption und nicht zuletzt CO2-Speicherung ist enorm. Studien haben ergeben, rechnet die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder vor, dass man mit zehn Prozent mehr Grün die sommerlichen Höchsttemperaturen in der Stadt um bis zu drei Grad Celsius senken kann. Mit der Wiener Klimakarte, die die ehemalige Planungsstadträtin Birgit Hebein im September letzten Jahres vorgestellt hat, gibt es nun auch hierzustadt eine echt heiße Planungs- und Nichtverbauungsgrundlage.

Ganz ehrlich? Viele Fassadenbegrünungen zwischen Sydney, Biotope-City und MA 48 am Margaretengürtel sind klimatischer und ökologischer Schmonzes. Muss das wirklich sein? Ja, es muss! Auf rationaler und wissenschaftlicher Ebene wissen wir schon viel, aber damit erreicht man weder Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann noch irgendwelche ökonomisch getriebenen Investorenherzen. Bis der Baustoff Grün in der Stadtplanung und im Städtebau nicht wieder absolute Selbstverständlichkeit wird, ist jedes grüne Mittel recht. Her mit den grünen Fassaden! (Wojciech Czaja)

Contra

Über nichts reden die Wiener lieber als über Fassaden jeder Art. Die Stadt ist eine Bühne, jedes Haus eine Kulisse, alles ist schöner Schein, alles ist Oberfläche. Darüber lässt sich auch viel schöner streiten als über banale Fakten und über die Mechanismen hinter den Kulissen. Kein Wunder also, dass auch der Kampf gegen die Überhitzung und für die klimagerechte Stadt recht schnell zu einem zweidimensionalen Fassadenthema wurde.

Um es gleich klarzustellen: Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist der wichtigste, den es gibt, und hier ist jedes Mittel recht. Wenn es der Kühlung dient, dass es hier und da vertikal emporrankt: Nur her damit! Es wird schon nicht, wie von vielen befürchtet, der ganze kulturelle Reichtum der Architektur hinter Efeu und Knöterich verschwinden.

Aber die Fassadenbegrünung kaschiert mehr als erwärmtes Gemäuer, sie ist eine Ablenkungsstrategie. Sie verlagert das Schlachtfeld der Klimakatastrophe vom Öffentlichen ins Private, von der Ebene in die Senkrechte. Fragt man Landschaftsplaner nach den besten Mitteln gegen urbane Hitzeinseln, bekommt man fast immer dieselbe Antwort: Nichts ist besser als der richtige Baum am richtigen Ort. Bäume sind nahezu perfekt. Sie sind langlebig, kümmern sich weitgehend um sich selbst, spenden im Sommer Schatten und im Winter nicht.

Es gäbe noch reichlich Platz für mehr Bäume, doch an diesem Platz stehen heute tonnenschwere Klumpen aus Metall dumm herum. Weil man sich – von homöopathischen Pflanzprojekterln und kurzen "Kühlen Meilen" abgesehen – nicht traut, hier jemandem etwas wegzunehmen, weicht man aus. Sollen sich die Hausbesitzer ums Klima kümmern! Während Paris, Amsterdam und New York die Autos radikal verbannen, bleibt in Wien alles beim Alten, im scheinheilig schönen Schein des "Genug gestritten!".

Doch nicht nur in Wien werden Ränkespiele mit dem Geranke getrieben. Seit Architekt Stefano Boeri 2014 in Mailand die baumbestandenen Doppeltürme seines Bosco Verticale einpflanzte, übertrumpfen sich Investoren weltweit in der Begrünung ihrer Wolkenkratzer. Wurscht, wenn für den Beton ganze Sandstrände über Nacht verschwinden: Was von außen so schön grün aussieht, kann nur ökologisch sein! Ist es nur eben fast nie.

Von Fallwinden gerüttelt und von Böen zerzaust, kämpft das zum Symbol überhöhte bemitleidenswerte Gestrüpp im 29. Stockwerk einen aussichtslosen Kampf, dabei möchte es doch so gerne einfach nur in Ruhe zwischen seinen Artgenossen am Boden stehen. Zwar macht die Bewässerungstechnik große Fortschritte, und es verdorrt nicht mehr alles sofort, wenn der Hausbesorger im Sommerurlaub ist, doch der Aufwand steht ab einer gewissen Höhe in keinem Verhältnis zum energetischen Ergebnis.

Also: Vorsicht bei den grünen Tapeten und Fassaden: Oft steckt nicht mehr dahinter als Chlorophyllkosmetik. (Maik Novotny, 11.4.2021)