Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat nach sechs Jahren ein neues Buch vorgelegt – das erste seit der Auszeichnung.

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Segen oder Bedrohung? Humanoide Roboter wie die von Hanson Robotics gebaute Sophia gibt es in immer größerer Zahl.

Reuters / Tyrone Siu

Das Kürzel KI kennt man mittlerweile: künstliche Intelligenz. Was aber ist eine "KF"? Im neuen Roman von Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro steht es für eine "künstliche Freundin". Klara ist eine solche, im Schaufenster eines Spielwarenladens lässt sie sich die Sonne ins Gesicht scheinen und wartet auf ein geeignetes "Zuhause". Denn KFs sind dazu gemacht, um Kindern und Jugendlichen Gefährten zu sein. Das ist in dieser Welt normal, Kinder ohne KF gelten als einsam. Man darf sich diese KFs nicht als Blechkisten vorstellen, sondern mit Haut, flotter Frisur und schicken Kleidern. Jede KF ist individuell, Klara zeichnet besondere Empathie aus.

Blicke in den "Abgrund"

Beschäftigte der japanisch-britische Bestsellerautor Kazuo Ishiguro (66) sich in frühen Romanen wie Was vom Tage übrig blieb (1989) vornehmlich mit Themen rund um den Zweiten Weltkrieg, zog es ihn in den 2000ern zu Science-Fiction und Fantasy. In Alles, was wir geben mussten befasste er sich etwa mit Klonen als Organspendern. Beide Bücher wurden verfilmt. Der begrabene Riese behandelte zuletzt friedliches Zusammenleben und Feindschaft angesichts von Erinnern und Vergessen in der Zeit nach der römischen Besatzung Großbritanniens und wurde bevölkert von fantastischen Wesen wie Kobolden und Drachen. Seine Bücher würden "den Abgrund unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt" offenlegen, lobte die Schwedische Akademie, als sie dem Autor 2017 für viele überraschend den Literaturnobelpreis zuerkannte. Dies lässt sich auch über Klara und die Sonne feststellen, Ishiguros ersten Roman nach dem Preis.

Der Abgrund tut sich darin erst fast lähmend langsam immer weiter auf. Es gibt ja bereits smarte Spielzeuge für Kinder: Chatbots, Stofftiere mit Sensoren, Avatare als Freunde fürs Smartphone. Ishiguro denkt das weiter und gibt den Rechenoperationen so etwas wie Bewusstsein.

Permanente Analyse

Das beginnt damit, dass Klara permanent die Welt um sich herum analysiert, menschliches Verhalten und Gefühle studiert, anhand von Kleidung auf sozialen Status schließt. Einmal sieht sie aber Taxifahrer raufen und stellt sich vor, so zornig auf eine andere KF zu sein, dass sie diese beschädigen wollte. Die Idee kommt ihr "lächerlich vor, aber ich wollte wenigstens den Keim eines solchen Gefühls in meinem Geist finden". Nach einigen Wochen im Laden wird Klara von Josie (14) ausgewählt. Die warnt Klara gleich, dass sie oft niedergeschlagen ist.

Klara zieht zu Josie und ihrer Mutter in ein schönes Haus und ist fortan dabei, wenn Josie digitalen Unterricht bekommt oder an der Reihe ist, eines der regelmäßigen "Interaktionsmeetings" auszurichten. Das sind Treffen, bei denen Jugendliche lernen sollen, mit anderen Menschen klarzukommen. Wobei mit anderen ihresgleichen gemeint ist, denn sozialer Aufstieg ist nur dem möglich, der eine Genomeditierung hinter sich hat. Josies einziger Freund Rick hat das nicht.

Zwei Schreckensvisionen

Langsam kristallisieren sich die zwei Schreckensvisionen heraus, die Ishiguro auf 350 Seiten verwebt. Die eine ist eine Gesellschaft, deren Elite sich stark abgrenzt. Die Genomeditierung als Eintrittspass kann körperliche Schäden hervorrufen. Die andere ist die, dass der Mensch aus Fleisch und Blut ersetzbar wird. Nicht nur als anonyme Pflegeroboter, sondern jedes Individuum. In Vorbereitung auf den Tod Josies lässt deren Mutter nämlich einen Roboter nach dem Ebenbild der Tochter anfertigen, in den Klara, die Josies Verhalten beobachtet hat, einmal als Software schlüpfen soll.

Hier hängen sich die ethischen Fragen an, die Ishiguro aufwirft. "Die neue Josie ist keine Imitation. Sie wird wirklich Josie sein. Eine Fortsetzung von Josie", erklärt Mr. Capaldi, der den Roboter baut. "Ein Teil von uns wehrt sich dagegen loszulassen. Der Teil, der nach wie vor glauben will, dass in jedem von uns etwas Ungreifbares ist. Etwas, das einzigartig ist und sich nicht übertragen lässt. Aber es gibt nichts dergleichen, und das wissen wir jetzt."

Oberflächlich gedacht

Tiefer geht das Nachdenken jedoch leider nicht. Zudem fehlt Ishiguro offenbar jedes Interesse an der Technologie. Er erzählt aus der Perspektive Klaras, und da die KF sich die Welt erst erschließen muss, nähert sie sich allem ahnungslos an. Dieser Blick könnte spannend, da entlarvend sein, wirkt hier aber nur unbeholfen. Handys sind für sie "Rechtecke", das Wohnzimmer nennt sie bis zuletzt "Großraum". Kein doppelter Boden tut sich auf. Insofern wird Klara als naive Erzählerin auf die Dauer mühsam und ärgerlich dumm, der Ton oft kindisch.

So bleibt die Geschichte hinter ihren Möglichkeiten, hinter den Kapazitäten von KIs und auch hinter jenen der Leser zurück. Lassen sich Menschen abschaffen? Wie viel ist man bereit, für ein gutes Leben zu riskieren? Muss man das gesellschaftliche Spiel mitspielen? Solche Fragen stellen sich unterwegs, Ishiguro dringt aber nie so tief, dass es ein Gewinn wäre, das Buch zu lesen. (Michael Wurmitzer, 10.4.2021)