Im globalen Ausnahmezustand muss die politische Klasse im Land enger zusammenrücken, sagt der Historiker und Publizist Wolfgang Koch im Gastkommentar.

Der Bundeskanzler stürzt im aktuellen Vertrauensindex auf Platz vier ab. Das ist der schwächste Wert für Sebastian Kurz seit Dezember 2013.
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Es ist der Denkstil des Risikos, der heute unsere Urteilskraft lähmt. Der Kampf gegen das Risiko der Ansteckung war anfangs die kollektive Anstrengung zur Lebensrettung Hochbetagter, von denen in unseren Breiten 60 Prozent durch Behandlungsverzicht oder -abbruch passive Sterbehilfe erleiden. Wir haben unter ungeheurem Aufwand jene geschützt, deren Todeseintritt wir zu guter Letzt als Angehörige beschleunigen.

Massenentlassungen blieben dank einer zweiten Klasse von Arbeitslosen aus; zu den gefürchteten Insolvenzwellen kam es bisher nicht, weil sich die staatlichen Hilfsprogramme an Umsatz und Fixkosten ausrichten, statt an den Gewinnen in den Vor-Corona-Jahren.

Die Bilder weinender Ärztinnen und Ärzte aus der Lombardei haben keine Wirkung gezeigt. Eine gesetzliche Regelung des Behandlungsbedarfs auf Intensivstationen fehlt; das Parlament beschäftigt sich lieber mit Chats von Ministern. Und die Triage-Leitlinien priorisieren alltagskompetente Fälle ohne Vorerkrankungen und gute Prognose.

Zu Weihnachten witzelten die Medien bereits mit den Schlagzeilen "Ihr Kinderlein, zoomet!" und "Die Ruhe vor dem Stich". Die Politik redet ständig so, als ginge es nur darum, das Seuchengeschehen richtig zu verwalten. Aber die Wahrheit ist: Niemand hat etwas unter Kontrolle, weder der nationale Notstand noch eine Geldentwertung sind vom Tisch.

Mehr Zusammenhalt

Der strukturelle Grund der Pandemie, die Welthomogenisierung, lässt sich nicht rasch verändern. So zerreißen die Immunfluchtmutationen ein Gewebe, das mehr an Konfusion umfasst, als die Menschheit bisher gewohnt war. Die Pandemie explodiert mit einer teuer bezahlten Verzögerung, und wir können auch geimpft nicht wieder zurück zu Leben und Umständen von vorher. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, hielt Ende März 100.000 Neuinfektionen pro Tag in Deutschland für möglich. Letzte Woche erklärte Biontech-Vorstandsvorsitzender Uğur Şahin: "Vermutlich wird uns Covid-19 noch ein Jahrzehnt lang begleiten."

Die Demokratie hatte bisher keinen Mehrwert in der Krise. Dass die Zahlen nach jedem Lockdown gleich wieder nach oben gehen, lässt diese Strategie zweifelhaft erscheinen. Das hat zum falschen Versprechen der Massenimpfungen geführt und zum Verlust des demokratischen Miteinanders. Um den Solidarraum neu zu definieren und das Gefühl wechselseitiger Sorge und Verantwortung zu stärken, braucht Österreich dringend mehr Zusammenhalt der politischen Klasse.

"Türkis-Grün stellt jede Kritik als eine Form der Fundamentalopposition dar."

In der schwersten Gesundheits- und Wirtschaftskrise seit den Nachkriegsjahren ist die Auflösung der ÖVP-Grünen-Koalition zugunsten einer Konzentrationsregierung ein sinnvoller Schritt. In einer Allparteienkoalition kann Bundeskanzler Sebastian Kurz seine wenigen erfolgreichen Minister behalten und die anderen durch kompetente Leute der Opposition ersetzen. Nationale Einheit verschafft dem Bund die notwendige Legitimation bei den Durchgriffen gegenüber dem Föderalismus und der Regierung die notwendige Distanz zur Expertise der Scientific Communities.

Denn Expertise ist notwendig, aber nicht hinreichend für politische Entscheidungen, bei denen der verhinderte Schaden den neu verursachten Schaden übersteigt. Die Regierung tritt als Vollstrecker des wissenschaftlichen Willens auf, legitimiert ihre Entscheidungen als Ausdruck eines erwiesenen Sachzwangs, behandelt Messdaten wie einen Wert, der alle anderen Werte aus dem Feld schlägt. Damit stellt Türkis-Grün jede Kritik als eine Form der Fundamentalopposition dar und drängt die FPÖ in die Rolle der organisierten Irrationalität. Aus diesem Geist ist Österreich nicht entstanden.

Nationale Rettung

Das Nadelöhr der Pandemiebekämpfung bleibt die Impfstoffproduktion. Dass die mit öffentlichen Geldern beforschten Präparate nun privatwirtschaftlich verkauft werden, ist ebenso inakzeptabel wie die Praxis, dass mit hochwertigen Impfstoffen immunisierte Beiräte darüber entscheiden, wer das umstrittene Astra Zeneca und das schwache Sputnik V erhalten soll.

Eine Regierung der nationalen Rettung würde Österreich den Atem wiedergeben, der dem Land bereits fehlt. Kinder und Jugendliche sind im Grund genommen die einzigen systemrelevanten Gruppen; sie brauchen dringend Öffnungsschritte und mit Belüftungsanlagen ausgestattete Klassenzimmer. Der Einzelhandel braucht freie Öffnungszeiten mit einem Security vor jeder Ladentür.

Wohin die Reise nach Corona geht, ist klar: Deglobalisierung und Entmächtigung des Weltmarktes, sukzessive Stärkung und Immunisierung der Region gegenüber zu großer Abhängigkeit von außen. Die vorläufigen Gewinner der Pandemie sind Konzerne, Zustell- und Streamingdienste, der Videospielemarkt. Wohnungs- oder Hausbesitzer profitieren vom Wertzuwachs, Gesundheitsdienstleister verfolgen eine Bereicherungsagenda. Beteiligen sich diese Krisengewinnler am Schuldenabbau? Nein, freiwillig tun sie das nicht.

"Heute unterliegen nicht einmal die Atemschutzmasken einer Preiskontrolle."

Österreich kam nach 1945 schwer in die Gänge. Doch 1946/47 verstaatlichte die ÖVP-Regierung – ohne Freude an dem Gesetz – 70 Industrie- und Bergbauunternehmen, die wichtigsten Elektrizitätsgesellschaften und drei große Banken. 1957 richtete das Land ohne gesetzliche Grundlage die Paritätische Kommission ein, zusammengesetzt aus vier nichtstimmberechtigten Regierungsmitgliedern und vier stimmberechtigten Interessenvertretern. Heute sind AK, ÖGB, WK und LK Servicedienstleister. Damals wachten ihre Funktionäre in Ausschüssen und Beiräten scharf über jeden Preisanstieg, kontrollierten die Arbeitskosten, schützten die Währung und flankierten unpopuläre Maßnahmen. Heute unterliegen nicht einmal die Atemschutzmasken einer Preiskontrolle. Es gibt also eine Menge zu tun. Selbst die 1954 ins Leben gerufene Elektrogeräteaktion ließe sich heute mit Luftreinigern und Beatmungsgeräten wiederholen.

Dreierlei Unruhe

Bereits vor Corona ist es nirgendwo auf der Welt gelungen, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte nach unten zu führen. Demnächst erreicht Österreichs Staatsverschuldung den dreistelligen Prozentbereich vom BIP. Warum ist diese von allen Steuerzahlerinnen und -zahlern aufzubringende Summe plötzlich nicht mehr von Belang?

Man kann die Pandemiebekämpfung nicht länger auf die Schultern der Jüngeren abwälzen. Auch die Älteren sollen in Form von Steuern und Abgaben einen angemessenen Beitrag leisten. Wie mahnt der weise Agur in den Sprüchen Salomos: "Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das vierte kann es nicht ertragen." – Unsere erste Unruhe galt den Toten, die zweite dem wirtschaftliche Schaden, die dritte der Unfreiheit, was wir aber nicht mehr ertragen, das ist die durch exorbitante Staatsschulden gefährdete Zukunft unserer Kinder. (Wolfgang Koch, 10.4.2021)