Australien setzt auf kurze, harte Lockdowns, so wie im Jänner in Brisbane. Selbst die Zeit zum Laufengehen wurde eingegrenzt.

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Selbst im Nobelhotel Hilton im Zentrum von Sydney muss sich der Gast etwas anhören, wenn er beim Frühstück über die rote Linie tritt. "Stellen Sie sich sofort wieder auf die andere Seite, jetzt!", sagt die schwarz befrackte Angestellte, und hängt ein nobles "Sir" an. Der Strich auf dem Boden zeigt die Grenze zwischen Restaurant und Buffet, die im Kampf gegen Covid-19 nicht einmal der Premierminister übertreten darf.

Die Luxuskette setzt wie alle Hotels und Gastrobetriebe die verordneten Vorschriftsmaßnahmen strikt durch. Dazu gehört nicht nur die Einhaltung physischer Distanz zwischen Gästen, Bedienungspersonal und Essen. Ob im Hotel oder im Restaurant: Jeder Gast muss sich mit einer Handy-App registrieren, bevor er oder sie sich setzen darf.

Beim Kulturfestival Fringe in Adelaide prüften jüngst Sicherheitsleute den Handybildschirm jedes einzelnen Gastes, ob dieser ein grünes Häkchen zeige. Unter 50.000 Leuten, die seine Kollegen kontrolliert hätten, seien nur zwei Undisziplinierte gewesen, sagt ein Sicherheitsbeamter zum STANDARD. "Man hält sich dran, weil man weiß, dass es wichtig ist", meint der Mittdreißiger.

Kurze, harte Lockdowns

Und weil es funktioniert. Seit Beginn der Pandemie verzeichnete Australien rund 30.000 Fälle von Covid-19. Etwa 26.000 Betroffene erholten sich, mehr als 900 starben. Seit Ende letzten Jahres haben die Krankenhäuser kaum noch Covid-Kranke zu versorgen. Nur selten tritt ein Fall auf. In der Regel greift dann die Regierung des jeweiligen Bundesstaates sofort hart durch – selbst nur bei einer oder zwei Ansteckungen.

Ein Lockdown von ein paar Tagen, einer Woche oder mindestens eine drastische Einschränkung der Bewegungs- und Ausgehmöglichkeiten garantieren, dass sich das Virus nicht ausbreiten kann. Die Folgen können schwerwiegend sein. Vergangene Woche wurde nach einem positiven Test im Touristenort Byron Bay buchstäblich Stunden vor Beginn ein Musikfestival abgesagt. Tausende von Besuchern waren bereits angereist.

"Fast normales" Australien

"Das wahre Rezept für den Erfolg ist das Contact-Tracing", erklärt Raina MacIntyre, Professorin für Epidemiologie an der Universität von New South Wales in Sydney. Die Tatsache, dass Ansteckungswege dank strikter Registrierung in öffentlichen Räumen und Anlagen innerhalb Stunden nach dem Bekanntwerden eines Falles zurückverfolgt und Verdachtsfälle isoliert werden können, habe dazu geführt, dass Australien heutzutage "fast normal" funktioniere. Sowohl in Einkaufszentren als auch in anderen öffentlichen Gebäuden sind Masken nicht vorgeschrieben und werden kaum noch gesehen. Büros und andere Arbeitsplätze funktionieren fast wie vor der Pandemie – wenn man von der konstanten Aufforderung absieht, sich die Hände zu desinfizieren und im persönlichen Kontakt Abstand von 1,5 Metern zu halten – etwa "die Länge eines Kängurus mit Schwanz", wie Schilder erinnern.

Eine der wenigen Ausnahmen sind Flughäfen. Es herrscht Maskenpflicht vom Moment, in dem man das Gebäude zum Einchecken betritt, bis zur Sekunde, in der man den Zielflughafen verlässt. Während des Fliegens darf die Maske "nur abgenommen werden, um zu essen oder zu trinken", sagt die nette, aber bestimmte Qantas-Flugbegleiterin noch vor dem Abheben. "Denken Sie daran: Sie tun es nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle."

Proteste selten

Nicht dass die Mahnung nötig wäre. Opposition gegen Corona-Maßnahmen ist in Australien bis auf einige wenige Ausnahmen praktisch unbekannt, von wenigen Ausnahmen mit relativ geringem Zulauf abgesehen. Viele Australierinnen und Australier blicken mit ungläubigem Staunen nach Europa, wo Lockdown- und Impfgegner Hand in Hand mit Neonazis gegen eine vermeintliche "Corona-Diktatur" protestieren. "Das sind doch Verrückte", sagt Reiseleiterin Lisa aus Adelaide, "denn sie verlängern damit ja nur das Leid von uns allen".

Für die australische Reiseindustrie hat die Pandemie geradezu apokalyptische Folgen. Schon seit über einem Jahr sind die Grenzen des Kontinents dicht. Man darf nur mit Sonderbewilligung ausreisen und muss nach der Rückkehr drei Wochen lang in Quarantäne, auf eigene Kosten. Vor allem aber fehlten im letzten Jahr über neun Millionen ausländische Touristen. Viele Reisebetriebe sind in Konkurs gegangen oder stehen kurz davor. Experten gehen davon aus, dass Australien frühestens zu Beginn nächsten Jahres seine Grenzen für den Massentourismus wieder öffnen wird – und auch dann nur für Gäste, die geimpft sind.

Belohnung vom Nachbarn

Fachleute wie Raina MacIntyre gestehen zwar ein: Die Tatsache, dass Australien eine Insel ist, habe maßgeblich zur Eindämmung der Pandemie beigetragen. Ohne Unterstützung der Bevölkerung für Lockdowns und Contact-Tracing wäre Australien aber nie so weit gekommen. Nun wurde das Land von jenem Nachbarn für seine Disziplin belohnt, der eine noch striktere und ebenso erfolgreiche Anti-Corona-Politik betreibt. Ab 19. April dürfen Australierinnen und Australier endlich wieder nach Neuseeland reisen. Ohne dort – wie bisher – zwei Wochen lang in einem Quarantänehotel ausharren zu müssen. (Urs Wälterlin aus Sydney, 12.4.2021)