Bei Piräus wurde um die ersten Olympiamedaillen geschwommen. Die Österreicher Neumann und Herschmann mischten mit.

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Herschmann war Fechter, Schwimmer und Funktionär.

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"Das gibt’s ja nicht!" Es kommt selten vor, dass Olaf Brockmann die Welt nicht mehr versteht, doch im Juni 2012 hat er sie nicht mehr verstanden – deshalb der Aufschrei. Der Doyen der heimischen Sportpresse hatte, wie er das stets vor Olympischen Spielen zu tun pflegt, die Medaillenstatistik des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mit jener des österreichischen (ÖOC) verglichen. Und, ei der Daus, da war der Wurm drin. Das IOC führte Österreich plötzlich mit einer Silbermedaille mehr, dafür mit einer Bronzemedaille weniger als all die Jahre zuvor.

Wie das? Brockmann ging der Sache auf den Grund und weit zurück. Fündig wurde er 1896, bei den allerersten Olympischen Spielen der Neuzeit. In den Ergebnislisten der Schwimmbewerbe. Diese wurden, da es noch keine Becken gab, im Meer ausgetragen, in der Bucht von Zea bei Piräus. Das Wasser hatte 13 Grad, alle vier Bewerbe fanden am 11. April statt, einen Tag nach dem Marathonsieg des Spyridon Louis. 19 Schwimmer aus vier Ländern waren gemeldet, doch wegen des engen Zeitplans war es keinem möglich, alle Rennen zu bestreiten.

Das war aus österreichischer Sicht kein Unglück, galt doch der Ungar Alfréd Hajós als fast unschlagbar, er siegte auch über 100 Meter und – mit zweieinhalb Minuten Vorsprung – 1200 Meter Freistil. Doch die 500 Meter Freistil musste Hajós auslassen, hier trug Paul Neumann den Sieg davon, der seither als erster österreichischer Olympionike in den Büchern steht.

Hohle Kürbisse im Meer

Doch zurück von Neu- zu Brockmann und vom 500- zum 100-Meter-Rennen. Hier ist nämlich jener Hund begraben, der den Wurm in der Statistik zur Folge hatte. Im "Offiziellen Bericht" der Spiele wird das Rennen geschildert: "Eine Barke legte vom Ufer ab und transportierte die fröstelnden Teilnehmer hinaus aufs Meer, wo man zwischen zwei Bojen eine Leine als Startmarkierung angebracht hatte. Begleitet wurden sie von einem Fahrzeug mit dem Kampfgericht und einem Schiff für die Presse. Nachdem die Athleten ins Wasser geglitten waren und hinter dem Seil Aufstellung genommen hatten, erfolgte der Startschuss durch einen Pistolenschuss. Daraufhin schwammen die Teilnehmer in Richtung Ufer, in dessen Nähe das Ziel mit einer roten Fahne sichtbar gemacht worden war. Die Strecke war lediglich durch hohle, auf dem Wasser schwimmende Kürbisse gekennzeichnet, sodass die Athleten Schwierigkeiten hatten, die Ideallinie zu halten."

In den offiziellen Dokumenten hieß es hernach, dass Hajós in 1:22,2 Minuten vor dem Griechen Eustathios Chorafas und dem Österreicher Otto Herschmann gesiegt habe. Der Version folgten alle Verbände wie das IOC, das ÖOC und Österreichs Schwimmverband – obwohl, das soll nicht unerwähnt bleiben, Berichterstatter ein ganz anderes Ergebnis übermittelt hatten. Freilich waren die Berichte erst mit einigen Tagen Verspätung zu lesen.

Am 26. April vermeldete die Allgemeine Sport-Zeitung, Österreichs führendes Sportblatt, einen "Kampf des Ungarn und des Österreichers, die anderen fielen nach 50 Metern ganz ab". Herschmann, von Hajós um einen halben Meter geschlagen, sei eindeutig Zweiter geworden. Auch der ebenfalls in Wien erscheinende Schwimmer machte klar, dass abgesehen von den Herren Hajós und Herschmann alle in der Bucht "verloren gegangen" seien.

Herschmann selbst redete ebenfalls stets von seinem zweiten Platz, dem er 1912 in Stockholm als Fechter mit dem Säbelteam einen weiteren folgen ließ. Da war er schon Präsident des ÖOC, er blieb es bis 1914. Bis 1932 stand der promovierte Rechtsanwalt dann dem Schwimmverband vor. Im Jänner 1942 wurde Herschmann, der jüdischer Abstammung war, von den Nationalsozialisten deportiert und im selben Jahr im Durchgangslager Izbica ermordet. Er wurde 65 Jahre alt. In Wien-Simmering ist seit 2001 eine Gasse nach ihm benannt.

Heimlich, still und leise

Ob das offizielle 1896er-Ergebnis über 100-Meter-Freistil mit dem griechischen Zweiten ein Kniefall vor den Gastgebern war? Man weiß es nicht. Sporthistoriker wie der Grazer Erich Kamper orteten ein "Fehlurteil der griechischen Kampfrichter". Doch das IOC blieb stur – bis 2012. Erst dann, mit 116-jähriger Verspätung, wurde das Ergebnis heimlich, still und leise korrigiert. Bald darauf übernahmen auch das ÖOC und die diversen Schwimmverbände die Schreibweise. Doch wer weiß, wann die Geschichte herausgekommen wäre, hätte Olaf Brockmann im Juni 2012 die Welt nicht mehr verstanden. (Fritz Neumann, 12.4.2021)