Ein klitzekleiner Biss nur, und ganz Rumänien wird wieder gesund: Im Bild Bela Lugosi und Helen Chandler bei der Kontaktaufnahme in dem Film "Dracula" (USA, 1931).

Foto: imago/United Artists

Im Pantheon der Schauerromantik genießt Fürst Dracula seit Ewigkeiten Heimrecht. Hat Corona dem Leumund der Fledermäuse zuletzt auch beträchtlichen Schaden zugefügt, so eignet dem Bild des aristokratischen Blutsaugers etwas unverwüstlich Verführerisches: ein Hauch von erotischer Respektabilität. In Draculas Heimatland Rumänien wurde ausgerechnet der kommunistische Diktator Ceauşescu vom ausgelaugten Volk zum Wiedergänger Draculas erklärt.

Und doch scheint die systematische Ausplünderung des Warschauer-Pakt-Staates durch seinen "Staatspräsidenten" keinesfalls die schlimmste Heimsuchung gewesen zu sein. Mit tückischer Unbedarftheit blendet Dana Grigorceas Neo-Vampirroman "Die nicht sterben" zurück in die Zeit vor 1989: In der Provinz, irgendwo an der Grenze zwischen Transsilvanien und Walachei, grünte ein ewiger sozialistischer Sommer. Die Bürger aus der Metropole Bukarest mieteten sich saisonal in enteignete Villen ein, und siehe da, die Nachfahren der besitzenden Klasse genossen schier endlose Ferien vom Lebensernst.

Der "Kommunistenkitsch" verschwand während solcher Aufenthalte in Kisten. Die Diktatur des Proletariats scheint vor allem eine Hochzeit des schlechten Geschmacks gewesen zu sein. Grigorceas Prosa erstickt fast im betäubenden Geruch der Wiesenblumen. Die Bourgeoisie saß Ceausescus Schreckensregime aus. Ein Tschechow-Duft nach Unverantwortlichkeit weht durch die Landschaft.

Selektive Wahrnehmung

In der Obhut von Tante Margot ("Mamargot") begeht eine junge, angehende Malerin eine Art Hochamt der selektiven Wahrnehmung. Fast unmerklich gleitet man hinüber in die Nachwendezeit. In der Kleinstadt B. bezeugen plötzlich Betonruinen den Ruck, der die Mentalitäten verändert. Trotz trügerischer Konsumversprechen nimmt die Zuversicht der im Ausland schuftenden Rumänen immer stärker ab.

Inmitten solcher epochalen Umwälzungen dehnt und streckt sich die Erzählerin wohlig im Sommerfrischebett. Da stülpt ein Bergunfall die Ordnung im Kaff um. Ehe sie es sich versieht, kriecht die Malerin in einer Krypta herum, in der ein weiterer Leichnam auftaucht und sich obendrein Spuren des historischen Grafen Dracula finden. Gemeint ist der berüchtigte Fürst Vlad. Der "Pfähler" genannt, hielt dieser im 15. Jahrhundert die Balance zwischen Ungarn und Osmanischem Reich.

Ihm unliebsame Zeitgenossen pflegte Vlad aufzuspießen: ein unschöner Zug, dabei ein klarer Hinweis auf "phallische" Qualitäten. Von nun an betreibt Grigorcea, die in Zürich lebt und auf Deutsch schreibt, eine hinreißende Umwertung aller Werte. Anonyme Flugobjekte bevölkern den Nachthimmel über B.; der Ich-Erzählerin widerfährt die Umwidmung in ein Tier. Derweil feiert der Bürgermeister den Grabfund, indem er einen Lunapark errichtet und die Heimat an Investoren verschleudert.

In den besten satirischen Passagen entwickelt die Autorin einen schier Jelinek’schen Drive. Ein Konsortium von Österreichern (!) macht sich um die illegale Ausholzung des Forsts unrühmlich verdient. Geld wird veruntreut, und Vlads fliegende Gefährtin saugt einem Rehbock das Blut aus. Alle Figuren sind undeutliche Kinder der Toten: Von der letzten Diktatur noch in Mitleidenschaft gezogen, vermögen diese Siebenbürger mit ihrer Freiheit nichts Rechtes anzufangen.

Rückgratlose Gewinner

"Uns kann niemand brechen", hallt Tante Margots Wahlspruch durch den Wald. Das Motto täuscht; eher schon wohnt man einer Gesellschaft beim Sich-Verbiegen bei. Die rückgratlosen "Gewinner" der Demokratie könnten, gemäß dieser Logik, einen sie stützenden Pfahl ganz gut gebrauchen. Doch jeden Anflug von Zynismus schüttelt der Roman anmutig von der Flughaut ab. Da ist dann schon ein "Viertel des Karpatenholzes" von den Österreichern geschlagen. Was tun daraufhin die Ösis? Beteuern, nichts Unrechtes getan zu haben.

"Es sei ja nicht ihre Schuld, dass die Politiker in Rumänien korrupt seien… Ein Schild mit der Aufschrift ,Nationalpark‘ hätten sie außerdem auch nie gesehen!" So viel scheint für uns Alpenrepublikaner nach Lektüre dieser Groteske jedenfalls sicher: Mir wern kan Dracula brauchen! (Ronald Pohl, 13.4.2021)