Ettore Sottsass war so etwas wie der Häuptling der Truppe. Der 1917 in Innsbruck geborene Zaubermeister des Designs, eine Art Punk am Reißbrett, versammelte ab 1981 in Mailand eine bunte Truppe und nannte deren "Ding" Memphis.

Der Name stammt, so heißt es, aus Bob Dylans Song "Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again", der bei einem der ersten Treffen der Gruppe lief. Zu dieser gehörten neben Sottsass Design-Größen wie Michele De Lucchi, Andrea Branzi, Michael Graves, Barbara Radice, Peter Shire, Nathalie Du Pasquier, Shirō Kuramata oder Matteo Thun.

Ziel der Design-Band, die sich nach und nach und 1988 endgültig auflöste, war es, das Korsett des Funktionalismus zu überwinden, das Alltägliche zu erhöhen und zu feiern. Ein Motto: Pfeif auf das Diktat der Marketingabteilungen. Auch die Regeln des damals gültigen guten Geschmacks sollten gebrochen werden.

Interieur für eine Ausstellung über italienisches Design in Tokio.
Foto: Vitra Design Museum, Jürgen Hans, Michele de Lucchi

Die Memphis-Entwürfe wirkten mit ihren wilden Farben und Mustern, als wären sie für ein Comic geschaffen, sie prägten eine neue Formensprache, die sich in der Popkultur, Mode, Werbeästhetik und Postmoderne zu einem wilden Mix verband. Die Designer scheuten sich nicht davor, Pyramiden, Kugeln, Kegel und Quader bunt und kariert in Form von Möbel-, Textil- und Keramikentwürfen durcheinanderzuwürfeln.

Ob einem das nun gefällt oder nicht, die Objekte von Memphis, die auch von David Bowie gesammelt wurden, versprühten eine im Design nie da gewesene Lebensfreude und Energie. Und einen gehörigen Schuss Tollheit.

Sessel "Bel Air" von Peter Shire.
Foto: Peter Shire, Vitra Design Museum, Jürgen Hans

Wagemut

Sottsass sagte: "Wenn du die Funktion eines Objekts genau untersuchen willst, zerrinnt sie dir zwischen den Fingern, weil sie ein Teil des Lebens ist. Funktion bedeutet nicht eine Schraube mehr oder weniger. Funktion ist der Schnittpunkt zwischen Objekt und Leben." Diesen suchten und fanden die Gestalter von Memphis. Mehr oder weniger.

Und dieser heiter frohe Forschungsgeist ist auch der Grund, warum Memphis nicht in den Wunderkammern mancher Designausstellungen vor sich hin verstaubt, sondern mit der nötigen Distanz von Jahrzehnten den Blick immer wieder aufklaren lässt.

Memphis fungiert bis heute als Spiegelbild der Fluten von Trends, aber auch als rockig-poppiges geistiges Gegenstück zum weitverbreiteten skandinavischen Minimalismus. Memphis ist ein Konstrukt, dessen Elemente gerade in diesen Zeiten immer öfter von einer jungen Generation von Gestaltern aufgegriffen werden.

Interieur für eine Ausstellung über italienisches Design in Tokio.
Foto: Marirosa Ballo, VG Bild-Kunst, Bonn 2021 für Entwürfe von Ettore Sottsass

Viele trotzen mit Memphis-Tönen auch der Düsternis der Pandemie. Und nicht wenige haben begriffen, was Sottsass meinte, wenn er sagte: "Für mich ist Design eine Art und Weise, das Leben zu diskutieren, soziale Beziehungen, die Politik, das Essen und sogar das Design selbst."

Ach ja, auf seinen Geburtsort Innsbruck angesprochen, meinte Sottsass fünf Jahre vor seinem Tod im Jahr 2007: "Das einzig Österreichische an mir ist die Art und Weise, wie ich Dinge angehe. Die Österreicher haben oft eine so saure Art. Sie sind sich einer Sache nie wirklich sicher. Ich bin mir auch nie sicher." Gut, dass er es trotzdem gewagt hat.

Matteo Thun war Mitbegründer der legendären Memphis-Truppe und ist einer der international umtriebigsten Gestalter.
Foto: Courtesy Matteo Thun, Bar Campari

STANDARD: Herr Thun, wo erwische ich Sie gerade?

Matteo Thun: Im schönen Engadin in der Schweiz, wo ich eine kleine Wohnung in den Bergen habe. Ich war heute den ganzen Tag Skifahren, fantastisch. Nachher geht es allerdings zurück nach Mailand. Die Arbeit ruft.

STANDARD: In Mailand wurde 1981 auch die Memphis-Bewegung gegründet, der Sie angehörten. Wie kam es zur Initialzündung?

Thun: Letztendlich war die Frustration über die täglichen Arbeitsinhalte ausschlaggebend. Irgendwann war Schluss, und wir sagten: "Jetzt machen wir etwas für uns selbst." Also etwas ohne Auftraggeber.

STANDARD: Das heißt, Memphis war auch eine Art Stinkefinger an die Industrie?

Thun: Nein, in keinster Weise. Wir waren der ehrlichen Überzeugung, dass wir eine neue Denkweise in die Designwelt einführen wollten, die sich auf die Beziehung zwischen einem Objekt und dem Menschen bezieht. Eine Sensualisierung.

STANDARD: Nicht wenige Entwürfe von Memphis wirken aus heutiger Sicht infantil. Manche bezeichnen sie als Kitsch. Was war denn das wirklich Besondere ?

Thun: Es ging um ethische Prinzipien der Nachhaltigkeit, die bis heute unsere Arbeit definieren. Memphis war sehr ernst gemeint. Im Vordergrund stand der Wunsch nach Innovation und das Bedürfnis, nach vorne zu schauen und nicht nostalgisch zu sein. Es ging um Zitate für die Zukunft. Andere Zutaten lauten Kompromisslosigkeit und Authentizität.

STANDARD: Und stilistisch betrachtet?

Vasen-Serie "Vasi rari serie rosso" von Matteo Thun.
Foto: Aldo Ballo

Thun: Weder die Ideen von Kitsch noch Art déco noch der italienische Futurismus haben uns angetrieben. Wir waren der Überzeugung, dass man machen und nicht grübeln soll. Es ging um eine haptische Qualität verbunden mit der Ausstrahlung von Optimismus und Freude.

STANDARD: Und das ohne Auftraggeber?

Thun: Dafür hatten wir eine ordentliche Portion Selbstvertrauen. Untertags haben wir für die Industrie gearbeitet. In der Nacht beschäftigten wir uns dann damit, die Grenzen auszuloten, was das Material, die kulturelle und technische Machbarkeit eines Objekts zulassen können. Es war eine sehr schöne Zeit.

STANDARD: Warum sticht Memphis heute noch als etwas sehr Uniques heraus? Es gab und gibt kaum Vergleichbares. Ist das der Grund für die anhaltende Faszination?

Thun: Ich denke, es geht um die angesprochene Authentizität. Memphis sollte eine neue Sprache sein.

STANDARD: Sie sprechen immer wieder von Sehnsüchten und Emotionen. Memphis war mehr als ein Stil, durchaus eine Revolution.

Thun: Im Jahr 1981 schon. Doch diese Revolution war wie jede revolutionäre Bewegung von kurzer Dauer. Die Nachhaltigkeit einer Revolution hat damit zu tun, dass sie sehr kurz und intensiv ist. Deshalb verfolgten wir auch die Idee, dass Memphis nach zwei Jahren zusperren sollte. Und deswegen habe ich nach zwei Jahren aufgehört.

STANDARD: Manche blieben länger bei der Truppe.

Thun: Ettore Sottsass hat sich in die Geschichte verliebt, bei mir war Schluss.

STANDARD: Es ist auffallend, dass sich in letzter Zeit mehr und mehr junge Designer formensprachliche Zitate von Memphis, sagen wir einmal, ausleihen. Warum gerade jetzt, nach 40 Jahren?

Thun: Ich glaube, das hat mit einem riesigen Überdruss des Digital-Designs zu tun. Insbesondere nach über einem Jahr in der Pandemie ist das Bedürfnis nach freudigen Farben und nach Überraschungen groß. Wir waren jetzt mehr als ein Jahr so gut wie eingesperrt, und aus diesem Sperrmechanismus kann man durch neue Farben und Formen ein Stück weit ausbrechen.

STANDARD: Menschen setzen sich seit der Corona-Pandemie vermehrt mit ihren Möbeln und den Dingen auseinander, mit denen sie sich umgeben. Das ist einer der wenigen Vorteile der Pandemie, oder?

Thun: Ja, die Pandemie hat Prozesse, die bereits Anlauf genommen haben, beschleunigt. Denken Sie nur an Geschichten wie "touch-free", also Hygienekonzepte in Sachen Armaturen, Türgriffe oder Lichtschalter. Bei den Möbeln findet, was deren Layout betrifft, eine Beschleunigung der Flexibilität statt. Das heißt, ein Wohnzimmer kann auch ein Arbeitszimmer oder ein Esszimmer sein. Möbel werden nicht mehr gestapelt, sondern geklappt, das verändert Dimensionen. Unser Studio bringt in Kürze eine "Postpandemia-Collection", bestehend aus Klappstühlen und Klapptischen heraus.

STANDARD: Zurück zu Memphis: Stimmt es, dass der endgültige Durchbruch von Memphis 1982 gelang, als Karl Lagerfeld im großen Stil einkaufte? Er richtete seine Wohnung in Monte Carlo mit Memphis-Stücken ein. Auch David Bowie war ein Sammler der Stücke. Haben Sie die beiden je getroffen?

Karl Lagerfeld mit Memphis-Möbeln in seiner Wohnung in Monte Carlo.
Foto: Foto: Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021 für Entwürfe von Ettore Sottsass, Jacques Schumacher

Thun: Bowie hab ich nicht persönlich kennengelernt, auch wenn wir oft miteinander gesprochen haben. An die erste Begegnung mit Lagerfeld kann ich mich gut erinnern. Es hieß, ein deutscher Gast sei im Schauraum. Ich radelte hin, und Lagerfeld fragte: "Was soll ich kaufen? Soll ich etwas kaufen?" Ich sagte ihm: "Kaufen Sie alles, es lohnt sich." In der Modewelt war Memphis deshalb so angesagt, weil wir zum ersten Mal etwas wirklich Neues gebracht haben. Und die Mode sucht permanent nach neuen Ikonen und Akzenten.

STANDARD: Ansonsten orientiert sich eher die Welt des Produktdesigns an der Mode.

Thun: Ich frage mich, ob Produktdesign überhaupt noch existiert.

STANDARD: Wie bitte? Wir werden von neuen Dingen geradezu überflutet.

Thun: Mit 11. September 2001 haben wir Design und den Designbegriff zu Grabe getragen.

Thuns Kanne "Penguino".
Foto: Argento Cleto

STANDARD: Das müssen Sie jetzt aber bitte erklären.

Thun: Das Design bestand früher zu 90 Prozent aus Architekten. Ich selbst bin auch Architekt und weiß nicht wirklich, was denn ein Designer sein soll.

STANDARD: Sie werden als Star-Designer tituliert. Sie entwerfen Gläser, Uhren, Tassen, Möbel und vieles anderes.

Thun: Lassen Sie mich die Frage an Sie stellen: Was ist denn Design?

STANDARD: Salopp formuliert, würde ich sagen, der Designer kümmert sich um die Dinge, die in einem Raum zu finden sind, der Architekt um die große Hülle.

Thun: Das ist das angelsächsische Denken. In Mailand verfolgen wir einen politischen Ansatz.

STANDARD: Der da wäre?

Thun: Die großen Architekturbüros wie meines, aber auch seinerzeit jene von Ettore Sottsass, Achille Castiglioni oder Vico Magistretti haben Häuser gebaut und die Räume mit Stühlen, Tischen und Lampen bestückt, damit das Ganze aus einem Guss ist und eine gemeinsame Entwurfslogik vorweist. Dieses Denken mit Materialien entspringt der Architektur und nicht einem Studium von Produktdesign.

STANDARD: Haben Sie deshalb auch Ihre Professur zurückgelegt? Sie haben ja viele Jahre Design an der Wiener Universität für angewandte Kunst gelehrt.

Thun: Ja, das stimmt. Das Meisterklassen-Prinzip, dieses Schatullen-Denken war mir einfach zuwider. Ich verstehe es bis heute nicht, und es hat keine Zukunft.

STANDARD: Was soll also jemand tun, der als – nennen wir es Gestalter arbeiten möchte?

Thun: Er oder sie sollte sich einen Lehrmeister suchen, so wie im Mittelalter. Giotto di Bondone ist als Vierjähriger beim Künstler Cimabue in die Lehre gegangen und war mit neun fertig. Genau dieses Prinzip ist heute wieder dringend notwendig. Die akademischen Inhalte in unserer Zunft sind alle implodiert.

STANDARD: Sie sprechen vom Mittelalter. Heute sucht man sich mit vier keinen Lehrmeister. Was also tun? Bei Ihnen anklopfen?

Thun: Ich würde nicht zu mir gehen. Ich würde mir einen Renzo Piano oder einen Rem Koolhaas suchen und bei dem kostenlos arbeiten und lernen. Ich habe mit summa cum laude ein Architekturstudium in Florenz abgeschlossen, das mir null und nichts genützt hat.

STANDARD: Und wovon würden Sie während dieser Zeit leben? Vom Taxifahren oder Pizzazustellen?

Thun: Warum nicht? Ich habe auch als Kellner und in anderen Jobs gearbeitet, um mir leisten zu können, kostenlos für Ettore Sottsass arbeiten zu dürfen.

STANDARD: Was noch zu klären wäre: Was hat Ihre Aussage, das Design sei tot, mit dem 11. September 2001 zu tun?

Thun: An diesem Tag haben sich vor allem die Menschen in New York zum ersten Mal wieder in die Augen geschaut und verstanden, dass der Mensch als Mensch respektiert werden soll. Sie haben verstanden, dass der kleine und der große Maßstab ein und dasselbe sind. Es geht um Maßstäblichkeiten. Das hat dazu geführt, dass, wie gesagt, das Studium von Design als isoliert betrachtete Ausbildung obsolet geworden ist.

STANDARD: Das klingt sehr kryptisch. Was bedeutet denn dieser kleine Maßstab?

Thun: Der kleine Maßstab braucht das Leben mit allen Sinnen. Man kann mit einer Kaffeetasse genauso sprechen wie mit einer Katze, einem Hund oder einem Menschen. Es geht um emotionalisierte Objekte. Es bedarf der Anreicherung von Emotionen in einem Objekt. Wenn es um dieses Thema geht, bringe ich immer meinen Traum-Wecker zur Sprache. Der weckt mich jeden Morgen und hat die Faszination einer toten, grauen Maus. Das weckt nicht unbedingt positive Emotionen.

STANDARD: Erzählen Sie noch mehr von Ihrem Wecker.

Thun: Er ist angeblich der perfekte Wecker. Er sieht aus wie ein grauschwarzes Quadrat mit abgerundeten Ecken.

STANDARD: Und was macht er für ein Geräusch?

Thun: Er haut einen jeden Morgen aus dem Bett. Das erzeugt Emotionen.

(Michael Hausenblas, RONDO, 15.4.2021)

Tee-Topf von Matteo Thun.
Foto: Courtesy Matteo Thun, Bar Campari, Aldo Ballo; Argento Cleto