Die libysche Küstenwache bringt abgefangene Migranten zurück nach Tripolis. Oft stecken dahinter aber brutale Milizen.

Foto: AFP

Abd al-Rahman Milad, besser bekannt als Al Bija, ist ein vielseitiger Mann. Geht es nach ihm selbst, ist der einstige libysche Warlord nichts weniger als ein Held Europas, weil er mit seiner Flotte zehntausende Migranten an der westlibyschen Küste aufhält, bevor sie sich auf den Weg in Richtung Italien aufmachen.

Geht es nach anderen, und das sind nicht wenige, spielt Al Bija eine Doppelrolle: Offiziell seit Jahren als Chef der Küstenwache unterwegs, die das Schlepperwesen bekämpft, nascht er selbst als große Nummer im Menschenschmuggel mit. Manche meinen, er sei gar die größte Nummer im nordafrikanischen Krisenstaat, weshalb er als einer der weltweit meistgesuchten Schlepper galt.

Spezialeinheit greift zu

Die Suche konnte im Oktober eingestellt werden: Al Bija, Mitte 30, wurde in Tripolis von einer Spezialeinheit festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, Menschen zu schmuggeln und zu foltern und dafür verantwortlich zu sein, dass Dutzende Migranten im Mittelmeer ertrunken sind. Bereits seit 2018 stand er auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats, die Festnahme erfolgte auf Aufforderung der Uno.

Vor wenigen Tagen kam es aber zur überraschenden Kehrtwende. Der zuständige Staatsanwalt in Tripolis ließ alle Vorwürfe aus Mangel an Beweisen fallen, Al Bija kam wieder frei. Dies sorgte vor allem in Italien für Kopfschütteln.

Deals mit Milizen

Dort hatten Journalisten der Tageszeitung Avvenire aufgedeckt, dass Al Bija als Teil einer libyschen Delegation mit italienischen Behörden verhandelte, um Migranten in Libyen fest- und damit von Italien fernzuhalten. Es gilt schon länger als offenes Geheimnis, dass der einstige Innenminister Marco Minniti inoffizielle Deals mit libyschen Milizen abschloss, um die Ankünfte an Italiens Küsten zu reduzieren.

Dies führte zu internationaler Kritik, gingen diese Milizen, von denen sich viele als Küstenwache ausgaben, doch alles andere als zimperlich vor. Im Fall von Al Bija rechtfertigte sich Minniti einst damit, er habe nicht gewusst, dass dem Libyer Verbrechen vorgeworfen wurden.

Neuwahlen in Libyen

Was dessen jetzige Freilassung betrifft, so liegt nahe, dass sie mit den politischen Turbulenzen im Land zusammenhängt. Die Festnahme wurde vom Ex-Innenminister angeordnet, seit einem Monat ist aber eine Übergangsregierung an der Macht, die das Land auf Neuwahlen vorbereiten soll. Und Al Bija gilt weiterhin als Nationalheld.

Trotz neuer Regierung bleibt Libyen weiterhin das Haupttor für eine Fahrt übers Mittelmeer nach Europa. Mit Stand 12. April kamen 8472 Menschen von Libyen aus in Italien an, das ist die Hälfte aller Ankünfte über das Mittelmeer. Vincent Cochetel, Sonderbeauftragter des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) für die Mittelmeerregion, geht davon aus, dass heuer mindestens so viele Menschen kommen werden wie im vergangenen Jahr – das waren 95.031.

Als zweiter Hotspot neben Libyen hat sich Tunesien entwickelt, sagt Cochetel zum STANDARD. "Die Behörden gehen streng gegen die Corona-Pandemie vor. Das führt dazu, dass viele junge Menschen ihre Jobs verlieren. Die versuchen dann nach Europa zu kommen, um Arbeit zu finden."

Flexible Schlepper

Mit dem Frühling und dem besseren Wetter erwartet Cochetel wieder einen Anstieg bei den gefährlichen Überfahrten nach Europa. "Tunesien und Libyen erhöhen ihre Kapazitäten, um ihre Seegrenzen zu kontrollieren. Aber Schlepper reagieren schnell auf neue Bedingungen." Schlepper wie Al Bija.

Was Libyen betrifft, so kann er zumindest mit einer kleinen Verbesserung für Migranten und Flüchtlinge aufwarten. "Ab September wurden die Internierungslager nahe der Küste geschlossen, in denen Milizen und Schlepper brutal gegen die Menschen vorgingen", sagt der Franzose. Aber die Insassen, erklärt er, wurden in neue Lager gebracht, zu denen das UNHCR und andere Hilfsorganisationen nur schwer Zugang haben. "Wir können kaum sagen, wie es den Menschen dort geht." Cochetel schätzt, dass rund 4000 Menschen in den Lagern untergebracht sind, etwa ein Drittel davon Flüchtlinge. Wie es mit ihnen unter der neuen Übergangsregierung weitergeht, ist noch unklar.

Seenotretter vor Gericht

Weiter in der Kritik stehen auch Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer Schiffbrüchige retten. 24 Seenotrettern steht bald ein Prozess in Italien bevor. Mehrere Regierungen werfen NGOs vor, ein Pull-Faktor zu sein, also Menschen anzulocken, die Reise übers Mittelmeer nach Europa anzutreten. "Im letzten Jahr waren Covid-bedingt zwischen Februar und Juni kaum NGOs im Mittelmeer im Einsatz – die Ankünfte sind trotzdem gestiegen", sagt Cochetel dazu.

Um der humanitären Krise ein Ende zu setzen, sei es laut Cochetel wichtig, "die Menschen gar nicht erst nach Libyen zu lassen". Alle Nachbarstaaten müssten sich bemühen, das zu erreichen. Dort sei es am schlimmsten, sagt Cochetel. Dort wartet Al Bija. (Kim Son Hoang, 15.4.2021)