Der Karl-Lueger-Platz hat die Zusatztafel schon, viele würden ihn aber gern umbenennen.

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Der Umgang mit dem umstrittenen Lueger-Denkmal am Lueger-Platz wird derzeit debattiert. Vergangenes Jahr wurde es aus Protest besprayt.

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Rund 6600 Straßen, Wege, Brücken und Plätze gibt es in Wien, knapp 4400 davon tragen die Namen von Persönlichkeiten. 2013 stellte eine Kommission rund um den Historiker Oliver Rathkolb in einem Bericht im Auftrag der Stadt fest, 159 davon seien historisch belastet. In 28 Fällen bestehe sogar "intensiver Diskussionsbedarf" wegen antisemitischer oder antidemokratischer Gesinnung der Namenspatrone – dort wurden inzwischen Zusatztafeln montiert. In den übrigen Fällen ist seither aber nichts passiert, ihre Zahl mittlerweile sogar angewachsen. Wie der Kurier in Erfahrung brachte, unternimmt Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) nun aber einen neuen Anlauf. Alle 150 noch unkommentierten problematischen Tafeln vom "Ronald-Rainer-Platz" bis zum "Paula-Wessely-Weg" sollen noch heuer Zusatztafeln bekommen. Zudem werden alle Straßennamen auf Kolonialbezüge untersucht – deren Zahl dürfte überschaubar sein.

Warum kommt jetzt Fahrt in die Sache? "Weil ich die Sache zu einer flächendeckenden, gemeinsamen Aktion gemacht habe. Es ist einfacher, wenn eine ganze Stadt sich mit dieser Thematik auseinandersetzt", sagt Kaup-Hasler. Zuständig für Straßennamen ist nämlich nicht die Stadt, sondern sind die Bezirke. Es gebe jetzt Zusagen aller Vorsteher, ein Redaktionskomitee soll die auf "Ambivalenzen und Schattenseiten" hinweisenden Texte verfassen, "denn es gibt trotz der Schattenseiten ja einen Grund, warum jemand einmal mit einem Straßennamen geehrt wurde".

Ob es in den Bezirken bisher an Problembewusstsein gemangelt hat oder eine logistische Angst gegeben war, kann Rathkolb nicht sagen. Doch seien jene "nicht wirklich immer interessiert an den Zusatztafeln gewesen".

Geschichtsbewusstsein und Praxis

Sind Zusatztafeln Rathkolbs erste Wahl, um die Erinnerungspolitik zu befördern? "Auch international ist es schick, Geschichte zu entfernen. Mit Umbenennungen bin ich aber sehr zurückhaltend, so einfach kann man es sich angesichts der langen Geschichte des Antisemitismus nicht machen. Wir sehen in Osteuropa, wo es Denkmalstürze gegeben hat und man glaubte, jetzt werden alle Demokraten, dass die Realität anders ist." Eine Auseinandersetzung mittels Zusatztafel sei "mühsamer, aber fruchtbarer. Man muss akzeptieren, dass es Phasen gab, die furchtbar waren. Sie auszuradieren funktioniert nicht." Wichtiger findet Rathkolb es, gegenwärtigen Rassismen und gruppenbezogenen Menscheinfeindlichkeiten Paroli zu bieten.

Aber ist wirklich jeder Straßenname gleich wichtig, um als Stachel im Fleisch erhalten zu bleiben? Immerhin sind nicht alle Patrone so prominent wie Karl Lueger, niemand würde sich ohne Schilder an sie erinnern, geschweige denn sie für verehrungswürdig halten. Das macht für Rathkolb aber keinen Unterschied. "Ich habe in den Diskussionen manchmal den Eindruck, es hätte in Wien einen einzigen Antisemiten gegeben, und das war Karl Lueger. Das ist absurd. So unangenehm es also ist, wenn man in einer Straße lebt, die nach einem antisemitischen Gemeinderatsabgeordneten aus dem späten 19. Jahrhundert benannt ist, das ist Teil unserer Geschichte."

Daneben nennt Kaup-Hasler praktische Gründe für Zusatztafeln. Müssten alle Bewohner einer Straße neue Meldezettel und Firmen neue Geschäftspapiere haben, käme das teuer und würde Gegenwehr hervorrufen.

Frauen am Rand

16 ganz neue Straßennamen für Wien hat indes diese Woche der Kulturausschuss beschlossen, etwa erhält die 2018 verstorbene Flüchtlingshelferin Ute Bock einen Weg in Favoriten. Noch ist das Entwicklungsgebiet Baustelle. Wäre die Umbenennung belasteter Straßen nicht eine Chance, Frauen Straßen in prominenten Lagen zu geben, statt sie am Stadtrand und mit Miniplätzen abzuspeisen?

Rathkolb ist in dieser Frage zerrissen. Für ihn gibt es im öffentlichen Raum ("der ja groß genug ist") sichtbarere Möglichkeiten für die Ehrung von Frauen. "Wir werden erdrückt von Denkmälern der Monarchie und der Ersten Republik, die Zweite Republik und die Demokratie haben sich hierzulande hingegen sehr wenige große Denkmäler aufgestellt." Da gebe es Nachholbedarf, das finde er wichtiger.

Drei Wochen hatte etwa Ute Bock 2019 ja schon ein Memento in der Innenstadt. Damals wurde das umstrittene Lueger-Denkmal von Künstlern hinter einer Bock-Fotografie verborgen – und sie gut sichtbar gewürdigt. (Michael Wurmitzer, 16.4.2021)