Ruf nach mehr Demokratie! Laut V-Dem-Bericht der Universität Göteborg ist die Zahl der liberalen Demokratien seit 2010 von 41 auf 32 gesunken. Wie fragil ist Demokratie?

Foto: Imago / Müller-Staffenberg

Aktuell sind die Aussichten für die Demokratie weltweit zappenduster. Der Democracy Report 2021 des Politikwissenschaft-Instituts Varieties of Democracy (V-Dem) an der Universität Göteborg trägt den vielsagenden Namen "Autocratization Turns Viral".

Seit 2010 ist der Anteil der Weltbevölkerung, der in Autokratien lebt, von 48 auf 68 Prozent angestiegen; das durchschnittliche Demokratieniveau, das ein Weltbürger heute genießt, ist auf den Stand von 1990 zurückgefallen; und im Covid-Jahr 2020 verletzten 95 Staaten internationale Freiheitsnormen, darunter 32 Demokratien.

Myanmar ist da nur die Spitze eines Eisbergs, der nicht schmilzt, sondern wächst. Dennoch dürfte das "Ende der Demokratie" genauso wenig in Sicht sein, wie es das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) jemals war.

Denn gleichzeitig schießen allerorts Bürgerräte aus dem Boden, "liquid democracy" und "systemisches Konsensieren" machen sich breit, in Chile wird am 15. Mai eine Verfassungsversammlung direkt von der Bevölkerung gewählt, die am Ende auch über den vorgeschlagenen Text entscheiden wird. Und auch in Österreich kommt ein Klimaschutz-Bürgerrat.

Direkte Demokratie

Mein Politikwissenschaftsstudium an der Universität Wien hat mich auf solche Innovationen nicht vorbereitet. Auf eine Lehrveranstaltung zur Zukunft der "schlechtesten aller Staatsformen, mit Ausnahme aller anderen" (Winston Churchill) wartete ich vergeblich. Ebenso vage blieb die Reflexion von Grundsatzfragen wie: Wer entscheidet, wer was entscheidet?

Ich kann mich noch lebhaft an eine frühe Begegnung mit Barbara Prammer im Parlament erinnern, am Rande einer Veranstaltung zur demokratischen Legitimation der Globalisierung. "Wir sind dazu gewählt, die Gesetze zu machen", belehrte sie mich knapp. Kurz darauf begann sie sich für direkte Demokratie starkzumachen – bis zu ihrem Lebensende.

Noch nicht ausgereift

Bis heute sind jedoch die Parlamente Volksentscheiden eher abhold – es sei denn, sie initiieren sie selbst, was eigentlich einen Missbrauch darstellt: Beispiel Brexit. Die Initiative zur Abspaltung von der EU ging nicht von den Bürgern und Bürgerinnen aus und kann deshalb auch nicht auf das Konto der direkten Demokratie verbucht werden.

In einer "souveränen Demokratie", wie sie mir vorschwebt, ist die Initiative zur Volks-Abstimmung diesem vorbehalten. Regierung und Parlament werden nicht gewählt, um den Wählenden ihre Abstimmungsfragen zu oktroyieren.

Lange vor dem Brexit beschäftigte mich die "Postdemokratie-Hypothese" des britischen Politikwissenschafters Colin Crouch. Sosehr ich seine Analyse teilte, war mir der von ihm gewählte Begriff doch zu pessimistisch: Ich bevorzuge "Prädemokratie", zumal eine Staatsform nach nur hundert Jahren – im Falle Deutschlands und Österreichs – noch nicht ausgereift sein kann.

Demokratie- und Machtfrage

Ganz anders als der trockene Analytiker Crouch war Gerald Häfner ein Augenöffner für das noch schlummernde Potenzial der Demokratie. Der langjährige Vorstandssprecher von "Mehr Demokratie" saß auch als Abgeordneter für die Grünen im Bundestag und EU-Parlament. "Die Demokratiefrage ist die Machtfrage", war sein Mantra. Das sehe ich seither auch so.

Weder Bioläden noch Windräder werden die Macht transnationaler Konzerne effektiv beschneiden. Das kann nur mit demokratischen Mitteln gelingen. Und da Regierungen und Parlamente das Thema Machtbegrenzung praktisch nicht anrühren ("Postdemokratie"), ist dies bis auf weiteres überhaupt nur mit direkt- oder souverändemokratischen Prozessen denkbar.

Über Häfners Begriff der "Kompetenzkompetenz" – wer entscheidet in einer Demokratie, wer was entscheidet? – kam ich zu meinem persönlichen Schlüsselbegriff "souveräne Demokratie". Ein Altphilologe gab mir den Hinweis: "Souverän" kommt vom lateinischen Begriff "superanus" und bedeutet "über allem stehend".

Höchste Instanz

Der Souverän ist also die höchste Instanz. Diese gibt es in jeder Staatsform: In der Monarchie ist es der König / die Kaiserin und in der Demokratie die gesamte Bevölkerung. Genau das hatte Barbara Prammer anders gesehen, und auch mein Vater beantwortete meine Frage, wer seiner Meinung nach der Souverän sei, spontan mit: "Das Parlament."

Diese Ansicht kenne ich auch aus Politologenkreisen, und die Proponenten und Proponentinnen von "Mehr Demokratie" Deutschland berichten von an Leugnung grenzender Ablehnung des Artikels 20 des Grundgesetzes, "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (…) in Wahlen und Abstimmungen", seitens führender Staatsrechtler.

Das Recht, eine Abstimmung zu initiieren, könnte als "Souveränsrecht" definiert werden – neben anderen wie dem, das Parlament zu korrigieren, über ein Handelsabkommen abzustimmen oder die Verfassung zu ändern. Dann wären verfassungsgebende und verfasste Gewalt klar getrennt. In der Monarchie hießen Souveränsrechte "Regalien" (von rex = König). Könige durften über Krieg und Frieden entscheiden, Adelige enteignen, Geld schöpfen, Zölle einheben.

Berlusconi gestoppt

Solche "kollektiven Grundrechte" sind beim Übergang von der Monarchie zur Demokratie mit wenigen Ausnahmen auf der Strecke geblieben: In der Schweiz hat der Souverän das Recht, die Verfassung zu ändern (Volksinitiative und Referendum); in Italien, das Parlament zu korrigieren (abrogatives Referendum).

2011 wollte die Regierung Berlusconi das Wasser privatisieren, neue Atomkraftwerke bauen und Spitzenpolitiker wie den Regierungschef von der Pflicht befreien, vor Gericht zu erscheinen. Die Bevölkerung sammelte eine halbe Million Unterschriften, im so erwirkten Referendum wurden alle drei Parlamentsvorhaben gestoppt.

Das ist der Unterschied zwischen souveräner Demokratie und dem Brexit. Mit einem Abrogativreferendum hätte die Brexit-Abstimmung verhindert werden können, die Korrektur der Regierung durch das Volk wäre ein Highlight der Demokratiegeschichte geworden. Und Großbritannien wäre heute noch in der EU.

Verdrehte Relation

Auch in Island ist die Relation zwischen Souverän und Vertretung bis heute verdreht: Nach der Finanzkrise beschloss das Parlament 2010 eine Verfassungsreform und ließ 15 Männer und 10 Frauen in eine verfassungsgebende Versammlung wählen.

Diese schrieb im ersten Halbjahr 2011 einen 25-Seiten-Text, der im Oktober 2012 einer Volksabstimmung unterzogen wurde: 67 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür. Infolge vom Höchstgericht beanstandeter Formalfehler bei der Wahl der Versammlung war das Referendum jedoch nicht bindend. Die Folgeregierung legte das Projekt auf Eis – bis heute.

Die "People’s Constitution" hätte die natürlichen Ressourcen zu "ewigen Gemeingütern" gemacht und allen Menschen die Versorgung mit Internet garantiert. Und sie hätte sowohl die italienische als auch die schweizerische Variante direkter Demokratie nach Island gebracht: Je zehn Prozent der Wählenden hätten ein Gesetz des Parlaments innert dreier Monate widerrufen (Art. 65) sowie ein eigenes Gesetz initiieren und zur Volksabstimmung bringen können (Art. 66). Vermutlich liegt es auch daran, dass die "People’s Constitution" bis heute nicht in Kraft gesetzt ist.

Inspiration aus Irland

Einen besseren Ausgang nahmen kurz danach die Bürgerräte in Irland. Das erzkatholische Land steckte zu Fragen der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Abtreibung in einer Sackgasse.

So kam die Regierung auf die Idee, die Bürger an runde Tische zu laden und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Der persönliche Austausch aller Perspektiven führte zu akzeptablen Lösungen. In zwei Volksabstimmungen wurden 2015 die gleichgeschlechtliche Ehe und 2018 die Abtreibung legalisiert. Heute sind die "citizens’ assemblies" Teil der demokratischen Normalität.

Inspiriert vom irischen Beispiel organisierte "Mehr Demokratie" im Herbst 2019 den ersten Bürgerrat in Deutschland. 160 zufällig aus dem gesamten Bundesgebiet ausgewählte Bürger und Bürgerinnen berieten vier Tage lang zur Zukunft der Demokratie. Für die "Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie" sprachen sich am Ende 156 Teilnehmende aus, eine dagegen.

Beim Thema Initiierung eines bundesweiten Volksentscheids stimmten 148 dafür und neun dagegen. Bundestagspräsident Schäuble lobte den Pilotversuch vor laufender ARD-Kamera. Anfang 2021 gab er einen weiteren Bürgerrat in Auftrag – zur "Rolle Deutschlands in der Welt".

Im Nachbarland Frankreich ließ Präsident Macron nicht zuletzt als Antwort auf die Gelbwesten im gleichen Jahr einen Klimaschutz-Bürgerrat einberufen. Ziel war die 40-prozentige Senkung der Treibhausgasemissionen. Aus allen Regionen des Landes wurden 150 Teilnehmer und Teilnehmerinnen per Zufallslos und repräsentativ nach Alter, Geschlecht, Wohnort, Bildung und Migrationshintergrund ausgewählt.

Bürgerräte überall

Die "Convention Citoyenne" tagte Ende 2019 an sieben Wochenenden. Ein Teilnehmer meinte: "Als meine Tochter mir direkt in die Augen sagte: ‚Papa, du warst es, der dem Planeten geschadet hat‘, wusste ich nicht, was ich ihr antworten sollte. Dann kam die Convention Citoyenne." Der Rat arbeitete insgesamt 149 Vorschläge aus, doch danach wurde es zäh.

Erst am 10. Februar dieses Jahres legte die Regierung ein Umsetzungsgesetz vor. Darin tauchen 25 der Vorschläge erst gar nicht mehr auf, 75 wurden teilweise übernommen, 19 im Wortlaut. Schon im Juni 2020 hatte der Präsident ein "Njet" zur Senkung des Tempolimits von 130 auf 110 Stundenkilometer verkündet.

Angenommen wurden dagegen: ein Werbeverbot für klimaschädliche Produkte, ein Vermietungsverbot schlecht gedämmter Wohnungen ab 2028, eine Verbrauchsobergrenze für Autos von 95 g CO2/km ab 2030 und die Einführung des Straftatbestands "Ökozid".

Klimaschutz-Bürgerrat

Die Kirsche auf der Klimatorte: Klimaschutz soll als Staatsziel in der Verfassung verankert werden. Das Parlament hat diesen Vorschlag Anfang 2021 bereits mit 391 zu 47 Stimmen angenommen. Stimmt auch der von der Opposition dominierte Senat zu, kommt es zum bindenden Referendum.

Zum Vergleich: In Österreich wollte die schwarz-blaue Regierung BIP-Wachstum als Staatsziel in der Verfassung verankern – ohne eine einzige Bürgerin zu fragen. Das könnte nun anders kommen: Dem internationalen Trend folgend gab auch das österreichische Parlament am 26. März in einem Entschließungsantrag den Startschuss für einen Klimaschutz-Bürgerrat.

Gefordert und begleitet wird dieser von Aktivisten und Aktivistinnen von "Wir entscheiden Klima!", "Mehr Demokratie", Fridays for Future und Extinction Rebellion. Sie wollen erreichen, dass der Bürgerrat nicht nur eine beratende Funktion haben soll, "wie derzeit leider vorgeschlagen", sondern dass das erarbeitete Maßnahmenbündel 1:1 abgestimmt wird – entweder per Volksabstimmung oder im Parlament.

Entscheiden sollte dies der Bürgerrat selbst. Es wird also auch hierzulande spannend. Vielleicht kommt am Ende heraus, dass statt immerwährenden Wirtschaftswachstums der Schutz des Weltklimas und der Artenvielfalt als Staatsziele in der Verfassung prangen?

Bemessen am Widerstand

Eine weitere Innovation, die in der zukünftigen Demokratie eine entscheidende Rolle spielen könnte, ist das Abstimmungsverfahren des "systemischen Konsensierens". Es wurde von zwei Mathematikern der Universität Graz entwickelt und verbreitet sich gerade international. Anders als beim simplen Mehrheitsentscheid wird nicht über einen Vorschlag abgestimmt, was zu Polarisierung führt und Demagogie ein leichtes Spiel gibt, siehe Brexit.

Stattdessen werden mehrere Lösungen erarbeitet und zur Abstimmung gebracht. Gemessen wird jedoch nicht die Zustimmung, sondern der Widerstand. So haben polarisierende Vorschläge und Kampagnen finanzstarker Gruppen keine Chance. Es gewinnt der Vorschlag, der den geringsten Widerstand im Souverän hervorruft: der Vorschlag, der die Freiheit aller am geringsten einschränkt.

Gerechtigkeitsspiel

Die Menschen heute befürworten Ungleichheit, aber mit begrenzten Höchsteinkommen.
Foto: Christian Felber

Die Effektivität des Verfahrens habe ich anhand eines Gerechtigkeitsspiels kennengelernt. Regelmäßige lasse ich das Vortragspublikum Vorschläge zur Begrenzung der Ungleichheit bei Einkommen machen, vom Faktor 1 zwischen Höchst- und Mindesteinkommen (völlige Gleichheit oder "Sozialismus") bis zu keiner Obergrenze (unbegrenzte Ungleichheit oder "Kapitalismus").

Üblicherweise werden nicht nur beide Extreme vorgeschlagen, sondern fünf bis sieben Vorschläge dazwischen. Bei der anschließenden Abstimmung entsteht verlässlich eine kopfstehende Gauß’sche Glockenkurve.

Die beiden Extreme – "Sozialismus" und "Kapitalismus" – bilden die "Berggipfel" links und rechts des steil abfallenden "Widerstandstals". Den Talboden bildet der Vorschlag mit dem geringsten Widerstand. Bei bisher rund 500 Abstimmungen in 25 Staaten war dies am häufigsten der Faktor zehn.

Anders gesagt: Die Menschen des 21. Jahrhunderts befürworten Ungleichheit, jedoch sollten die höchsten Einkommen mit dem Zehnfachen des Mindestlohns begrenzt werden. Verglichen mit dem Status quo wäre das der Anbruch einer neuen Ära.

Ethischer Welthandel

Eine ähnliche Erfahrung machte ich in meiner Lehrtätigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien, wo ich unter anderem über "Ethischen Welthandel" als Alternative zu "Freihandel" (Grenzen blind auf) und Protektionismus (Grenzen blind zu) vorstellte: Handel solle ein Mittel zur Erreichung höherer Ziele sein, von den Menschenrechten bis zum Klimaschutz.

In der innovativen Abstimmung erfuhr Freihandel einen nahezu gleich hohen Widerstand wie Protektionismus; dagegen rief ethischer Welthandel null Widerstand hervor. Auch dieses Beispiel zeigt, dass eine einzige Abstimmungsvariante wie "für/ gegen Freihandel" gar keine sinnvolle Fragestellung ist.

Zu meiner Freude sprach sich der zweite Bürgerrat in Deutschland im März im Rahmen eines fairen und nachhaltigen Welthandels "für eine ausgeglichene Handelsbilanz" des Exportweltmeisters aus. Das gab es in keinem Handelsabkommen der Welt.

Die Welt blickt auf Chile

Eines der ersten Länder, dem Freihandel quasi verordnet wurde, war Chile. Neoliberale Wirtschaftspolitik kam nicht über Wahlen ins Land, sondern über Diktator Pinochet, der sich von Milton Friedman und August Hayek persönlich beraten ließ. Die Außenzölle wurden erst auf zehn Prozent und später auf null gesenkt.

Das hat junge Industrien in Chile ausradiert. Ein anderes neoliberales Kernprojekt, die Pensionsprivatisierung, ist so katastrophal fehlgeschlagen, dass heute jeder zweiten Chilenin die Altersarmut droht. Als Folge dieser Politik kam es 2017 zu sozialen Unruhen – die nun zur Neuschreibung von Pinochets Verfassung von 1980 geführt haben.

Am 15. Mai werden 155 Frauen und Männer direkt in eine Verfassungsversammlung gewählt, sie sollen bis Jahresende eine neue Konstitution entwerfen. Erstmals in der Geschichte wird dieser Konvent zu 50 Prozent aus Frauen bestehen. Indigene Gemeinschaften sind mit elf Prozent der Delegierten vertreten. Beobachtende hoffen in Verbindung mit der neuen Verfassung auf ein Ende des Neoliberalismus.

Zum Vergleich: Kann sich noch jemand an den Verfassungskonvent in Österreich 2003–2005 erinnern? Vermutlich die wenigsten – der Souverän wurde außen vorgelassen. Die Vertretung hatte sich selbst zur verfassungsgebenden Instanz gemacht, ganz nach der alten Vorstellung von Barbara Prammer und meinem Vater: Das Parlament ist der Staat!

Chile wird zeigen, was ein souverändemokratischer Prozess leisten kann. Den angehenden Studierenden der Politikwissenschaft wünsche ich, dass ihnen gleich zu Beginn des Studiums die ergebnisoffene Frage gestellt wird: "L’État: c’est qui?" (Christian Felber, 17.4.2021)