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Penible Orientierung an der politischen Linie der Volksrepublik China: Maoisten demonstrieren 1968 in Westberlin gegen den Vietnamkrieg.

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Helmut Lethen wurde mit Büchern wie Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994) und Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt (2018) bekannt. In den 1960er- und 1970er-Jahren war der 1939 in Mönchengladbach geborene Germanist und Kulturwissenschafter Mitglied der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (Aufbauorganisation).

1975 wurde er wegen "Versöhnlertums" aus der Partei ausgeschlossen und dennoch über den "Radikalenerlass" der Bundesregierung mit einem Berufsverbot in Deutschland belegt. Er lehrte daraufhin 20 Jahre in Utrecht.

Im vergangenen Jahr legte Lethen, der von 2007 bis 2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien war, seine Autobiografie Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug vor, von der folgendes Gespräch – auch – handelt.

STANDARD: Mich interessiert die dunkle Seite von 1968. Ich möchte deshalb mit einer Geschichte in Ihren "Erinnerungen" beginnen: Jemand, der in eine linke K-Gruppe eintritt, bekommt einen Tarnnamen, in Ihrem Fall Theo Risse. Ein spielerischer Name. Vorher hat er sich mit etwas Hochtheoretischem wie der Kritischen Theorie beschäftigt. War es das Unbehagen an der Theorie, die Sehnsucht nach konkretem politischem Handeln, die diesen Sprung in die Praxis ausgelöst hat?

Helmut Lethen: Im Grunde fängt es bei mir im Jahr 1964 an, mit der Übersiedlung von Holland nach Berlin. Ich bin kaum in Berlin, und schon bin ich involviert in die ersten militanten Demonstrationen gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Moïse Tschombé, aber durchaus noch angerührt durch Habermas’ Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit. Es war der Protest gegen die Stickluft der Westberliner Presse. Ich geriet in Gruppen wie den Argument-Club mit Wolfgang Fritz Haug, ein Zentrum theoretischer Reflexion: Es begann mit Kristallisationskernen des Nachdenkens, die immer auch von Aktionen begleitet waren.

STANDARD: Aus heutiger Perspektive erschreckt es, dass eine Bewegung antiautoritär beginnt und dann in eine so hierarchische Organisationsform umschlägt. Maoistische Gruppierungen wie die KPD/AO in Deutschland oder die ML-Gruppen in Deutschland und Österreich waren überaus autoritär strukturiert. Woher rührt diese Faszination des Autoritären?

Lethen: Es gibt zwei Motive, die ich noch rekonstruieren kann. Erstens war es die Angst vor Lebensstilexperimenten und frei flottierender Sexualität, das war der Strom, der sich in den 1970er- und 1980er-Jahren durchgesetzt hat. Von diesen Lebensexperimenten fühlte ich mich und meine kleine Familie bedroht und brauchte eine klare Struktur von außen.
Vor frei flottierender Sexualität war man in einer solchen Partei absolut sicher. Die ML-Parteien waren Kühlaggregate, in denen die überschüssigen Energien der Revolte eingefroren wurden. Das zweite Motiv hängt mit dem Begriff der "Untersuchung" zusammen, die im "demokratischen Zentralismus" realisiert sein sollte. Das Zauberhafte an diesem Modell war, dass die untere Ebene der Partei aus Mikrofonen und Lauschapparaten bestehen sollte, die die Geräusche und Widersprüche der Massen aufnehmen. Das Ergebnis dieser Untersuchung sollte, auf der mittleren Ebene der Partei übersetzt und schließlich im Politkomitee zusammengefasst, als Handlungsanweisung an die Basis zurückgegeben werden. Eine naive und zauberhafte Vorstellung: das Modell einer Partei, in der Drehtüren von Theorie und Praxis permanent in Bewegung sind.
Dieses Organisationsprinzip der Dritten Internationale war im Laufe der Geschichte etwa von großen Dissidenten wie Manès Sperber, den Sie ja viel besser kennen als ich, vielfach widerlegt worden. Wir glaubten, uns mit dieser Arbeit aus der Ohnmacht der Kritischen Theorie befreien zu können.

STANDARD: Wie haben Sie damals die politische Situation der 1920er und 1930er oder die Moskauer Prozesse gesehen? Wie haben Sie das damals erlebt in der Partei, aus der Sie 1975 ausgeschlossen wurden? Wie konnte man sich dazu versteigen, den DDR-Kommunismus vor allem deshalb zu kritisieren, weil er sich von Stalin abgewandt hat?

Lethen: Wir haben damals die großen Säuberungsprozesse in der Sowjetunion nicht intensiv diskutiert. Es kommt mir wie eine Ironie der Geschichte vor, dass einer der besten Leute aus unseren Reihen das Jahr 1937, das Jahr der großen Säuberungsprozesse in der Sowjetunion, später am besten beschrieben hat, nämlich der große Slawist Karl Schlögel.
Rätselhaft war und ist, dass wir uns irgendwie gegen die Nachtseiten der SU immunisiert hatten. Wir haben sie nicht gutgeheißen, aber wir haben uns auch nicht näher damit befasst, genauso wenig wie wir uns mit den Verbrechen der Kulturrevolution in China befasst haben. Beides hätten wir wissen können. Es gab genug Experten in unmittelbarer Nähe. Götz Aly hat in dem nicht unumstrittenen Buch Unser Kampf materialreich beschrieben, was wir von den großen Emigranten hätten lernen können.

STANDARD: Der italienische Germanist und Benjamin-Spezialist Mauro Ponzi hat einmal gesagt, die deutschsprachige Literatur und Kultur hat im 20. Jahrhundert zwei große Höhepunkte hervorgebracht, der eine ist die Erbschaft der Wiener Moderne, und der andere ist die Weimarer Republik.Was hat das für eine Rolle bei der politischen Identitätsbildung gespielt, weil es eine Zeit war, in der revolutionärer Marxismus scheinbar noch funktioniert hat und es einen großartigen kulturellen Überschuss gegeben hat? Sicher ist einiges an Weimar bis heute mystifiziert, aber es lässt sich nicht bestreiten, dass das eine fragile, aber bedeutende Epoche gewesen ist. Da gibt es Figuren wie Arnolt Bronnen und Carl Schmitt und die gemeinsame Ablehnung der liberalen Demokratie, diese Kälte, die Sie in Ihren Werken über die Weimarer Republik beschreiben – ein Laboratorium des Untergangs einer zivilen Demokratie. Vielleicht besteht darin auch ihre heutige Aktualität.

Lethen: Sie haben ganz recht. Die Gemeinsamkeit dieser großen Geister bestand in der Abwehr der liberalen Demokratie. Das war uns nicht klar. Erst später erkannten wir, dass bei Adorno und Horkheimer und in dem Kreis des Instituts für Sozialforschung vor 1933 keine Liebhaber der parlamentarischen Demokratie zu finden waren. Und bei Benjamin und Brecht natürlich auch nicht.
Nachträglich erfüllt mich mit Schrecken, dass unsere großen Idole der Weimarer Republik keine Liebhaber der Weimarer Demokratie waren, diese toxischen Denker, die unser Denken nicht vergiftet, aber elektrisiert haben. Esoterik und Terror sind Geschwister. Beide löschen die bürgerliche Austauschzone, diese großartige Errungenschaft, aus. Sie lieben die extremen Temperaturen, gehen zum Kältepol oder an den Hitzepol und hassen die laue Temperatur des Demokratischen. Auch ein so von mir verehrter Denker wie der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner hatte ein prekäres Verhältnis zur Republik.
Ich habe seinerzeit das Buch von Plessner über die "Grenzen der Gemeinschaft" (1924), in der sich die Gesellschaft in einem Maskenspiel aufzulösen scheint, nicht richtig gelesen, als ich mein Buch Verhaltenslehren der Kälte (1994) schrieb. Auf der einen Seite plädiert Plessner für ein Spiel des Austauschs mit sozialen Masken in der Gesellschaft, um sich gegen die Tyrannei der Intimität in der Gemeinschaft abzusichern. Auf der anderen Seite spricht er von den "primären Einbettungssphären", der Heimat, des Volkes, er sagt sogar des Blutes. Jeder Mensch habe ein "Naturrecht auf Wärme". Gleichzeitig hat der Mensch als soziales Wesen die Pflicht, von der Gemeinschaftssphäre zu abstrahieren, um als gesellschaftliches Wesen in das soziale Maskenspiel eintreten und als Staatsbürger in dieser Gesellschaft funktionieren zu können. Der Mensch soll es aushalten, in beiden Sphären zu leben.

STANDARD: Das heißt, wir haben es mit einem doppelten Problem zu tun, mit einer prekären Kälte wie mit einer prekären Wärme. Das Denken, das keine Distanz möglich macht, ist kein Denken, das ist ein Wohlfühlzirkus. Wenn wir uns die Identitätsdiskussionen von heute anschauen, dann sind das größere und kleinere Schneckenhäuser, in denen man sich wohlfühlt, weil nichts von außen hereinkommt. Da igelt man sich gegen die kalte Außentemperatur ein. Brauchten wir heute nicht etwas mehr Distanz, um überhaupt noch gesellschaftspolitische Diskussionen führen zu können? Wo würden Sie heute mehr Widersprüche sehen, bei den linken oder bei den rechten Identitären?

Lethen: Es gibt Punkte, in denen sie sich berühren, ohne es groß zu reflektieren. Eine Reflexion der Selbstwidersprüche des Lagerdenkens könnte uns schon weiterhelfen, Abkühlung täte not. Mir hat immer der Satz von Gottfried Benn eingeleuchtet: Das Denken muss kalt sein, sonst ist es familiär. (Wolfgang Müller-Funk, ALBUM, 17.4.2021)