Werner Neuwirth ist so etwas wie das Phantom der Wiener Architektenszene. Keine Werbung, keine Porträtfotos, wenige öffentliche Auftritte. Seine Web-Adresse ist kein Name, sondern eine vierstellige Zahl. Er denkt und baut hintergründig, nicht vordergründig, das heißt auch, er baut langsam. Jetzt ist wieder ein Haus fertig geworden, sein siebentes in 20 Jahren. Es ist sein ungewöhnlichstes und vielleicht sein essenziellstes. Begleitend zum Bau des Hauses hat er ein in graues Leinen gebundenes Buch publiziert. Beworben wird es nicht. Werner Neuwirth nennt es "ein Büchlein" und sagt: "Wen es interessiert, der wird es finden."

Ein Haus voller Schaufenster: Das Atelierhaus C21 ist eine gebaute Versuchsanordnung, die den Nutzern einiges abverlangt, aber ihnen noch mehr zurückgibt.
Foto: Stefan Müller

Ein typisch Neuwirth’scher Satz. Auch auf das Gebäude selbst, das Atelierhaus C21, benannt nach seinem Bauplatz im Sonnwendviertel Ost, trifft er zu. Es hat seine Interessenten gefunden. Es ist ein in vieler Hinsicht einzigartiges Haus, das sich jeder Kategorie entzieht.

Es fängt damit an, dass das Grundstück, auf dem es steht, eigentlich gar nicht existieren sollte. Ein übrig gebliebener Rest zwischen Straße und Bahngleisen, das Resultat mehrerer Masterpläne für das Sonnwendviertel beim Wiener Hauptbahnhof. Der erste von Architekt Albert Wimmer sah eine klare Trennung vor: Gewerbe an der Bahn, dann eine breite Straße, dann Wohnen, dann Park. Das war auf eine Weise logisch, jedoch auf eine Weise, für die "Bahn" etwas ist, neben dem man auf keinen Fall wohnen darf, als wären wir noch im 19. Jahrhundert, als Lokomotiven dampften und Kessel explodierten.

Das Wohnen an einer lauten Durchgangsstraße schien hingegen seltsamerweise unproblematisch zu sein. Nachdem sich herausstellte, dass der Bedarf an Wohnraum den an Gewerbe weit überstieg, wurde im Zuge eines kooperativen Verfahrens ein neuer Masterplan unter Leitung von Max Rieder erstellt, mit kleineren Baufeldern und einer autofreien Promenade in der Mitte. Übrig blieb ein schmaler Rest zwischen einer Brückenauffahrt, den Bahngleisen und dem neuen Mistplatz. Vorgesehen war er, eher aus Ratlosigkeit, für Gewerbe.

Passanten und Bahnreisende
dürfen den Künstlern beim
Arbeiten zuschauen.
Foto: Stefan Müller

Einfach Raum

Ein Ort also, der aus Investorensicht nahezu wertlos war. Für Werner Neuwirth war es ein Stück Freiheit. Die Freiheit, ein Haus aus Räumen zu bauen, die einfach nur das sind: Räume. Statt der Funktionszuschreibungsversessenheit der modernen Architektur einfach nur: Luft, umschlossen von Materie. Keine durchgenormten Wohnzimmer, Schlafzimmer, Büroarbeitsplätze, keine mit Technik- und Konsumzubehör vollgeräumten, bis zum Anschlag optimierten Ausstattungsmaschinen. Stattdessen: einfach Raum zur Verfügung stellen und dann abwarten. Sobald man von den kaum hinterfragten Gewohnheiten abweicht, sagt Neuwirth, entstehe eine gewisse Unruhe, denn nicht jeder kann mit dieser Freiheit umgehen.

Künstler und Freiberufler können das vielleicht am ehesten, dachte man sich, und so fand der Raum seinen Nutzen als Atelierhaus. Auch dieser Begriff steht in keiner Norm und keiner Bauordnung, er ist die frei interpretierbare Version einer gewerblichen Nutzung. 78 Ateliers, zwei Galerien und ein Café füllen das Volumen. Was von außen wie ein einfacher Quader aussieht, ist im Inneren ein fast M.-C.-Escher-haftes dreidimensionales Puzzle. Das lange ausgetüftelte System kombiniert einen Raum mit 5,70 Meter Höhe mit einem niedrigen, 2,70 Meter hohen Bereich zu drei Grundmodulen, die mit geometrischer Präzision ineinandergreifen. Eine vorgefertigte Sanitäreinheit ist das einzige Zugeständnis an Funktion. Ein großes Fenster, ein kleines Fenster. Wände aus Sichtbeton. Was weiter passiert, ist künstlerische Freiheit.

Das muss man sich antun

Foto: Stefan Müller

Selbst das Erd- und Untergeschoß folgen mit demokratisch-geometrischem Purismus demselben System. Je nachdem, ob das Puzzleteil unten, oben, am Eck oder in der Mitte zum Liegen kommt, ergibt sich ein unterschiedlicher Charakter. Durch den Zusammenschluss zweier oder mehrerer Puzzle teile, horizontal oder vertikal, multiplizieren sich die Möglichkeiten. Selbst wenn man sich auf eine Einheit beschränkt, lassen sich durch den Einbau von Galerien die Quadratmeter erhöhen und eine Annäherung von so etwas wie Zimmern erzeugen.

Ein Haus, das nicht einfach im Effizienzrausch Regelgeschoße aufeinanderstapelt: Das muss man sich antun. "Ich weiß nicht, wie lange wir getüftelt haben, bis wir die Installationsschächte durchgefädelt hatten", sagt Werner Neuwirth. Auch Polier und Elektriker kamen ins Schwitzen, weil die Logik ihrer Kabelverlegungen ungewohnte Höhen- und Seitensprünge bekam.

"Wir haben mit diesem Projekt wirklich bei null begonnen", sagt Robert Hahn, Architekt und Geschäftsführer der C.21.a Projektentwicklungs- und Errichtungsgesellschaft. "Zuerst das räumliche Konzept zu entwickeln, dann erst die Nutzer zu suchen, das muss man sich zutrauen. Es gibt hier nicht die quantifizierbaren Parameter, die in der Immobilienbranche üblich sind." Gerade für Freiberufler passt das Atelierhaus allerdings exakt in eine Marktlücke, sagt Hahn. "Wir haben viele Homeoffice-Flüchtlinge, die gemerkt haben, dass ihre Wohnungen auf Dauer nicht als Arbeitsplatz funktionieren, der Büroimmobilienmarkt ihnen aber auch nichts in dieser Größe anbietet." Wenn dank der Corona-bedingten Homeoffice-Pandemie heute über neue Kombinationen von Wohnen und Arbeiten diskutiert wird, rückt das schmale Atelierhaus auf dem Randgrundstück plötzlich exakt ins Zentrum unseres heutigen Raumbedarfs.

Foto: Stefan Müller

Dem Leben sein Raum

Bis auf eine Einheit im Souterrain sind alle Ateliers verkauft. Manche sind noch leer, in anderen stehen schon Leinwände und Farbtöpfe, die ersten Galerieeinbauten sind schon eingezogen. Die anfangs gleichen betongrauen Grundmodule sind auf dem Weg in die Individualität. Auch oben wird das Puzzle nicht einfach horizontal abgeschnitten, sondern formt einzelne Dachterrassen mit denselben Fensterformaten, die hier ganz in Weiß rechteckige Blicke auf Wien zu Bildern rahmen. Nach Norden über Bahngleise, das Arsenal bis zum Kahlenberg und nach Transdanubien, nach Süden bis zum Schneeberg. "Ein verlängerter Canaletto-Blick", sagt Robert Hahn und lacht. Wie heißt es so schön in der Inschrift auf dem Gebäude der Sezession: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Man könnte hinzufügen: Dem Leben sein Raum. (Maik Novotny, 18.04.2021)