Foto: EPA / HO ORF

Beim Wettlesen um den Bachmannpreis im Frühsommer vergangenen Jahres, da saßen die teilnehmenden Autorinnen und Autoren samt interessiertem Publikum schon alle vor den digitalen Endgeräten zu Hause. Corona-bedingt. Niemand kam mehr nach Klagenfurt gereist. Auch Helga Schubert nicht.

Wieder nicht, könnte man in ihrem Fall auch sagen. Aber die Umstände, die 2020 zu diesem späten, beeindruckenden Literaturcomeback der damals schon 80-jährigen deutschen Autorin geführt haben, die muten überhaupt wie ein Märchen an. Ein Märchen, das am Ende gut ausgeht.

Schon 1980, da ist Schubert vierzig, wird die DDR-Autorin, die bereits einige Bücher publiziert hat, zum ersten Mal nach Klagenfurt zum Wettlesen eingeladen. Sie bekommt aber, auch weil zu jener Zeit Marcel Reich-Ranicki als bekennender Antikommunist Vorsitzender der Bachmann-Jury ist, keine Ausreisegenehmigung.

In den Jahren 1987–1990 wird Schubert dann Jurorin in Klagenfurt und kann so zumindest mithelfen, DDR-Kolleginnen und -Kollegen einen literarischen Auftritt zu verschaffen. Erst 40 Jahre nach der ersten Einladung zum Lesen folgt dann die zweite: Und Helga Schubert gewinnt 2020, achtzigjährig, den Bachmannpreis – mit ihrem kraftvollen Text Vom Aufstehen.

Autofiktionale Geschichten

Vom Aufstehen, so heißt auch der Erzählband, der jetzt im Frühjahr erschienen ist, "ein Leben in Geschichten". Konkret sind es 29, die allesamt stark an das Leben der Helga Schubert angelehnt sind. Vor allem geht es um eine traumatische Mutter-Tochter-Beziehung und die auch traumatischen 28 Jahre Leben in der DDR-Diktatur samt darauffolgender Wende und den Wendejahren.

In Keine Angst beschreibt Schubert, wo sie am 9. November 1989 war, zuerst in der Kirche und später dann am Brandenburger Tor: Autofiktion also in kurzen Episoden, die, so formuliert es Schubert selbst, die dabei in ihrem Haus in der Nähe von Schwerin sitzt, weil auch die Buchpräsentation digital stattfinden muss, "wie kleine Skulpturen sind".

Die Texte umfassen tatsächlich immer nur wenige Manuskriptseiten: "Mehr geht nicht!", sagt die Autorin, aber das könne sie gut. Mutig und selbstbewusst wirkt die mittlerweile 81-jährige Schriftstellerin, und ihr Buch Vom Aufstehen ist überhaupt das Manifest einer Ermutigung, wie jemand nach so vielen Widrigkeiten im Leben, etwa mit einer durch Kriegs-, Flucht- und schwierige Lebensumstände lieblos gewordenen Mutter, doch noch zu so etwas wie einem gelingenden Leben kommen kann.

"Patchwork-Heimat"

"Ich bin im Osten groß geworden, das ist aber nicht meine Heimat", schreibt sie in der Erzählung Meine Heimat, eine "Patchwork-Heimat", die sie heute eindeutig in Menschen gefunden hat und nicht in Orten. "Zwergenland" nennt sie die DDR und beschreibt eine Begegnung mit der österreichischen Schriftstellerin Friedericke Mayröcker, die damals auf Schuberts Sofa in Ostberlin saß und sagte: Keinen Tag könnte ich hier leben – und Schubert ihr antwortet: Ich auch nicht.

Die Tatsache, dass Helga Schubert sich in den DDR-Jahren als Schriftstellerin zurückgezogen hat und in der Folge 20 Jahre psychotherapeutisch gearbeitet hat, ist sicher stilprägend für das, was die deutsche und in Wien lebende Publizistin Andrea Roedig im aktuellen STANDARD-Podcast Lesezeichen eine "Schubert-Welt" nennt: das Leben, da oben bei Schwerin, die lebenslange Liebe zu ihrem Mann, die absurd schönen Freiheiten in einem vereinten Deutschland, der Versuch einer Versöhnung mit der Mutter.

In Das Märchen und die Erwachsene in mir schreibt sie: "Aber das Kind in mir weiß: Hauptsache, es geht gut aus." Nach all den Ungeheuerlichkeiten: "Draußen vor dem Zimmer der Intensivstation in der Evangelischen Klinik saß eine Amsel in einem kahlen Baum. Ich sagte zu meiner Mutter: Ich verdanke dir, dass ich lebe", schreibt Helga Schubert und weiter: "Es ist alles gut." Das ist der schön beschriebene Kern von Schuberts Schaffen. Oder auch das, was sie sich selber schöngeschrieben hat. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 18.4.2021)